Gespinst
Ulrich Hermanns, Henri Berners
Lieber Henri,
die mir gestern nicht recht präsente Charakteristik für das Unbewusste in der Erscheinung würde ich übrigens als Gespinst bezeichnen. Geflecht oder Gewebe ginge auch, aber Gespinst ist zugleich nah dem Hirngespinst. (30.10.2016)
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Gespinst ist der treffendste Begriff, lieber Ulrich.
Abgesehen vom gesponnenen Lebensfaden, vom Spinnen als verrücktes Fabulieren, von Arachnophobie sind es gerade jetzt im Herbst die hauchfeinen Spinnweben, die sich dem Blick verwehren, allererst im hellen Licht der tiefstehenden Sonne sichtbar werden, oder bei Morgenlicht, aber nur, wenn der Tau sich darin gefangen hat und im Morgenlicht wie Perlen glitzert. Das Organische, aus dem die Fäden gesponnen werden. Ein Sekret. Ein Geheimnis also. Und der „funktionale Aspekt“ des Absonderns.
Das passt allesamt hervorragend für diese „Trenn-Instanz“ oder Hülle. Christo musste für die Verhüllungen auf textile Materialien zurückgreifen, die zu robust sind, um das Gespinst zu simulieren. Ein Gespinst hat auch die Fähigkeit, sich zum Kokon auszubilden. Es wäre schon lohnenswert, diesen Begriff in den philosophischen Diskurs einzuführen. Das Verb spinnen und „spannan“ (locken, wegziehen), woraus Gespenst sich ableitet, haben eine gemeinsame etymologische Wurzel. Gespinst und Gespenst sind quasi Geschwister. (31.10.2016)
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13.7.2018: Wir danken für den Hinweis auf Karl Marx:
"Im Arbeitsprozeß bewirkt also die Tätigkeit des Menschen durch das Arbeitsmittel eine von vornherein bezweckte Veränderung des Arbeitsgegenstandes. Der Prozeß erlischt im Produkt. Sein Produkt ist ein Gebrauchswert, ein durch Formveränderung menschlichen Bedürfnissen angeeigneter Naturstoff. Die Arbeit hat sich mit ihrem Gegenstand verbunden. Sie ist vergegenständlicht, und der Gegenstand ist verarbeitet. Was auf seiten des Arbeiters in der Form der Unruhe erschien, erscheint nun als ruhende Eigenschaft, in der Form des Seins, auf seiten des Produkts. Er hat gesponnen, und das Produkt ist ein Gespinst."
MEW 23, 195 (Dritter Abschnitt: Die Produktion des absoluten Mehrwerts, Fünftes Kapitel: Arbeitsprozeß und Verwertungsprozeß, 1. Arbeitsprozeß )