Die Flut – Über sublime Selbstzerstörung und menschliche Kultur
Ulrich Hermanns
Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden.
Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, VIII (1930)
Auslöser dieser Darstellung ist die Berichterstattung an zwei befreundete Psychoanalytiker in Nord- und Ostafrika. Wir hatten kürzlich einen Fachartikel gemeinsam verfasst und kommunizieren in Englisch. Die Darstellung hier ist eine Übersetzung. Zunächst geht es sich um einen Artikel in der New York Times vom 27. Juli 2021. Er thematisiert Verhaltensänderungen im Zuge der Covid 19-Pandemie. Eine Fortsetzung efolgte kurz darauf. Sie bezieht sich initial auf ein Bild, das auf der Website des Deutschlandfunks veröffentlicht wurde. Es zeigt das Hochwasser vom Juli 2021 im Ort Dernau im Tal des Flusses Ahr.
Virtualität – eine Selbstverständlichkeit des Alltagslebens
Die American Time Use Survey erfasst jährlich, wie die Bürgerinnen und Bürger des Landes ihre Zeit verbringen – ganz schematisch und heruntergebrochen auf typische, tägliche Verrichtungen. Das US-Arbeitsministerium ist Herausgeber der Studie. Deren Datenerhebung war von Mitte März bis Mitte Mai 2020 ausgesetzt, da sich für die Untersuchung erforderliche Kontakte Pandemie-bedingt nicht herstellen ließen.
Für den verbleibenden Zeitraum ergab sich – im Vergleich des Jahres 2020 mit dem vorangegangenen –, dass die Menschen täglich etwa eine Stunde mehr allein und eine halbe Stunde mehr mit den Mitgliedern des eigenen Haushalts verbrachten, jedoch anderthalb Stunden weniger mit Kontakten außerhalb des eigenen Haushalts. Unter den Erwachsenen mit Kindern zwischen sechs und zwölf Jahren verbrachten Frauen gut zwei Stunden länger mit den Kindern als im Jahr zuvor. Bei Männern war es ein Plus von 81 Minuten. Alleinstehende Mütter dabei insgesamt etwa eine Stunde mehr als verheiratete. Die Berufsarbeit aller fand gut anderthalb Stunden weniger am Arbeitsplatz und stattdessen zu Hause statt.
Eine Zusammenfassung kann der Onlineversion der New York Times entnommen werden.
https://www.nytimes.com/interactive/2021/07/27/business/economy/covid-parenting-work-time.html
Schlafen, Kochen, Hausarbeit, Körperpflege oder Fitnessübungen veränderten sich dagegen bezüglich der aufgewendeten Zeit über alle Altersstufen – ab 15 bis über 65 Jahre – hinweg weniger als eine Viertelstunde. Nur TV und Videos beanspruchten deutlich mehr als 15 Minuten zusätzlich.
Über drei Stunden verbringen Menschen über 15 Jahren in den USA durchschnittlich je Tag mit diesen beiden virtuellen Aktivitäten. Über die Jahre leicht abnehmend in der Dauer. Spiele und Zeitvertreib (außerhalb des beruflich Veranlassten) an Computern nicht eingerechnet, die den Rückgang bei TV und Video allerdings mehr als kompensieren.
In einem Fachartikel im Journal of Advertising Research – veröffentlicht im Juni 2020 – fragten Patrick Barwise, Steven Bellman und Virginia Beal folgendermaßen: Why Do People Watch So Much Television and Video? Kurzgefasst kommen sie zu dem Schluss: TV hilft den Menschen zu entspannen und ihren Sorgen zu entkommen. Unter anderem bestätigen Studien mittels Elektroenzephalogramm (EEG) dieses Ergebnis. Fernseh- und Videobilder anzuschauen ruft Hirnwellen hervor, die mit angenehmer, wacher Entspannung assoziiert werden. Sie absorbieren kognitive Funktionen, welche das Bewusstsein der Zuschauenden von anderen mentalen Zusammenhängen abkoppeln.
http://www.journalofadvertisingresearch.com/content/60/2/121
Eher positive Wirkungen – nämlich auf emanzipatorische Bestrebungen von Frauen in Familienkontexten mittels TV-medial vermittelter Erfahrung – enthüllte 2009 eine Studie zu Auswirkungen des damaligen Kabel- und Satellitenfernsehens im ruralen Indien. Dort zeigte ein Drei-Jahres-Panel, dass die Einführung von Kabel-TV mit einer deutlich abnehmenden Akzeptanz häuslicher Gewalt gegenüber Frauen und Söhnen einhergeht. Ebenso war eine Zunahme weiblicher Autonomie und eine Abnahme von Fruchtbarkeit (fertility) beobachtbar. Angenommen wird, dass auch zunehmende Schulanmeldungen junger Kinder auf der wachsenden Teilhabe von Frauen an familialen Entscheidungsprozessen gründen. Diese Wirkungen beruhen nicht auf zuvor bestehenden Trends. Cf: Jensen, Robert and Emily Oster (2009). "The Power of TV: Cable Television and Women's Status in India" in The Quarterly Journal of Economics, Volume 124, Issue 3, August 2009, Pages 1057–1094.
https://doi.org/10.1162/qjec.2009.124.3.1057
Bedeutet das psychoanalytisch etwas?
Solche Erkenntnisse haben trotz der bedeutenden Rolle medialer, also imaginärer, Erfahrung zunächst wenig mit psychoanalytischen Perspektiven zu tun. Der einen Seite des Imaginären liegt eine technische Objektivität zugrunde, der anderen dessen individuelle Konfiguration.
Meine Frage ist, ob sich Psychoanalyse des Ausmaßes bewusst ist, wie sehr menschliche Erfahrung inzwischen über Jahrzehnte virtuell vermittelt ist? Befreundete Analytikerinnen und Analytiker berichten seit längerem über vor allem junge Analysandinnen und Analysanden, deren Aufmerksamkeit und Haltung sich deutlich in Richtung Unzugänglichkeit verändert hat. Ein Therapeut verwendete gar einen umgebauten Fernsehrahmen, hinter dem er sich platzierte, um die Aufmerksamkeit seiner Klientin zu erlangen. Man könnte das mit der Ausstattung des Sprechzimmers von Melanie Klein vergleichen, als sie in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts in London die Grundlagen ihrer Kinderanalyse legte.
Ökosphären und Unbewusstes
Kontrastierend zum allgegenwärtig Virtuellen kann hier in Deutschland, wo die Wirtschaft weitgehend floriert und das soziale Leben zusammenhält, anlässlich der massiven Überschwemmungen zugleich abgelesen werden, wie darüber hinaus eine Dimension des objektiven Unbewussten beschaffen ist. Nämlich als eine Form kaum spürbarer Absorption menschlicher Aggression. Cf: Widmer, Peter (2021). Destruktion des Ichs. Psychoanalytische Annäherungen an den Ursprung menschlicher Aggression. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Diese zeigt sich unter anderem darin, dass hier – wie auch in vielen anderen Teilen der Welt – eine kleine Anzahl von Menschen deutlich zu viel verbraucht und davon oberdrein zumeist das Falsche. Ob großvolumige Fahrzeuge, allgegenwärtige Heizungen und Klimatisierungen, ob gedankenlos tierische Produkte oder die entfremdete Arbeit Anderer, die sie niemals kennenlernen werden. Seien es diejenigen, die Baumwolle für allseits nachgefragte Kleidung anbauen und verarbeiten, die Metalle und Mineralstoffe abbauen oder Rohöl fördern, das, ohne je gesehen zu werden, zur selbstverständlichen Fortbewegung verbrannt wird. Seien es die Frauen, die weltweit Teeblätter pflücken, die Jungen, die auf Plantagen Kakaofrüchte oder Männer, die Kaffee ernten.
Dieser Teil der weitgehend unreflektierten – unbewussten – Kultur kann als Ort verstanden werden, wo Kräfte walten, die Sigmund Freud als Todestriebe bezeichnete. Dieses Spiel ist durch keinerlei höhere Mächte orchestriert, doch immerhin so gestaltet, dass Übeltäter kaum als solche demaskierbar sind. Nicht zuletzt, weil sie hinter einem oft bewunderten und rechtlich weithin abgesicherten Status von Überlegenheit unberührbar scheinen. Damit werden zugleich individuelle Verantwortung und Schuld ziemlich unerkennbar. Es geht sich hier nicht darum, wen auch immer persönlich zu desavouieren. Ohne die – wenngleich abgestufte – Teilnahme praktisch Aller an solchen Prozessen können sie nicht funktionieren. Auch ist sicher, dass die destruktiven Kräfte nicht jederzeit als solche erkennbar sind, die ab gewissen Schwellen kaum umkehrbar sind. Doch ist sicher, dass Macht auch so gebraucht werden kann, dass sie deutlich näher an nachhaltigen Werten operiert. Dabei auch Antworten gibt, wie diese gestärkt und durch ökonomische Aktivitäten unterstützt werden kann. Oft sind nur geringe Perspektivenwechsel erforderlich. Beispielsweise in Richtung Andere und Kollektivität.
Genossenschaftliche Organisationsformen sind in Mitteleuropa seit zweihundert Jahren verankert. Zahlreiche Landwirtschaftliche Produzenten und Handwerker begannen damals, sich zusammenzuschließen. Einige Genossenschaften organisierten sogar Banken und es entstanden Versicherungen auf Gegenseitigkeit, die heute noch bestehen. In vielen Gegenden der Welt gibt es Projekte zur Unterstützung solcher Kooperationsformen auf lokaler Ebene. Doch können sie wenig ausrichten gegen die breit herrschende Arbeit der portraitierten Todestriebe.
Letztere scheinen sich der Externalisierung des Drucks zu verdanken, der in den einzelnen Individuen ehedem in der Geschichte nicht beherrschbar war und dauerhaft nicht beherrschbar ist. Es mag sein, dass der Druck durch das explizite Vorenthalten elementarer Existenzfaktoren bedingt ist, die ihrerseits nur durch den Erwerb mittels Kauf erlangt werden können. Was eine hoch entwickelte Ökonomie sowie die affirmative Unterwerfung der einzelnen Individuen erfordert und einschließt.
Wasser, Landmassen, Atmosphäre
Die aktuelle Flut in Deutschland, Belgien und Holland wie auch auf anderen KOntinenten des Globus hat zahlreiche Dörfer und Städte, das heißt: die Menschen darin, hart getroffen. Einige der hier betroffene Ortschaften liegen entlang des normalerweise schmalen Flusses Ahr, im Ahrtal. Seit 150 Jahren schlossen sich die Winzer dort in großer Zahl genossenschaftlich zusammen. Dabei bauen viele heute Wein vor allem nebenberuflich an. Die aktuelle Flut hat mehr als die Hälfte der Infrastruktur im Ahrtal zerstört.
Die Gebäude am linken Ufer sind die der Winzergenossenschaft Dernau. Über mehr als zwei Jahrzehnte kauften wir unseren Wein dort. Eine Brücke verband bis vor zwei Wochen das Gelände mit dem Ort gegenüber, eine Bahnstrecke führte entlang des Flusses. Es gibt unzählige Bilder, die viel gravierende Zerstörungen zeigen. Doch sind solche konkreten Aspekte hier nicht das zentrale Thema, soviel Anteilnahme ihnen auch gebührt. In den Umgebungen meiner Adressaten, ob Afrika oder Indien, gibt es oft weit drastischere Zerstörungen.
Dabei verbrauchen die meisten Menschen dort nur Bruchteile dessen, was in den Global North genannten Regionen konsumiert wird. Solcher Hyper-Konsum ist letztlich der Grund für den weltweiten Klimawandel. Produktion und Konsum kommen hier ökonomisch, politisch und lebenspraktisch zusammen. Ob zehn oder zwanzig Prozent der Weltbevölkerung die hauptsächlichen Verursacher sind – alle anderen haben zugleich keine Chance, den Folgen zu entgehen. Wie solch geradezu Schicksalhaftes von den eher Enthaltsamen individuell aufgefasst wird entzieht sich weitgehend allgemeiner Kenntnis. Auch das sind Facetten eines objektiven Unbewussten. Es ist – doch nur als fraktales, zerklüftetes.
Angefügt sei eine Illustration, die eine Sitzung der sogenannten Kongo-Konferenz zeigt, ein Treffen, anlässlich dessen starke Kolonialmächte den Kontinent Afrika geopolitisch aufteilten. Das war 1884/85 in Berlin.
Man sieht den skizzierten Kontinent auf dem Wandbild. Die damaligen Grenzen scheinen vage konturiert. Der Kontinent Afrika fungierte als Objekt des Begehrens der hier versammelten Mächtigen, ein globales Partialobjekt. Angetrieben durch den Anspruch des belgischen Königs, den Kongo als persönliches Refugium ausbeuten zu dürfen. Dies wurde ihm gestattet.
Die extrem grausamen Formen der Unterdrückung der Indigenen und ihre Folgen sind bekannt. Der Wirtschaftshistoriker Nathan Nunn aus Harvard hat aufschlussreiche Berechnungen zu den Nachwirkungen von Sklavenströmen im heutigen ökonomischen Status der betroffenen Länder angestellt:
https://scholar.harvard.edu/files/nunn/files/empirical_slavery.pdf
Muss angesichts solcher Fortschreibungen nicht gefragt werden, wie dem, jenseits positiven Rechts, so zu begegnen ist, dass die historischen Fakten einst ohne tiefe Wunden verbleiben, die notwendigerweise den Status aller Einzelnen affizieren? Was eine tatsächlich interkontinentale mentale Präsenz und eine diesbezüglich ethische Position verlangt?
Eine weitere Illustration aus dem Einflussbereich der britischen East India Company verdeutlicht einige weitere globale und transgenerative Zusammenhänge.
Eine Herstellungsstätte für Opium mit Lager um 1850. Der hier produzierte Stoff ist konzentriertes Opium, kein eher sanftes Hasch. Während die hierzu geführten Opiumkriege geschichtliche Fakten sind, wirkten die Effekte auf die betroffenen Menschen, auf Politik und Ökonomie über Generationen hinweg weiter.
Dies war einer der Gründe für den gigantischen Chinesischen Bürgerkrieg und seine Konsequenzen im Kampf um die Macht, die schließlich in einen Staatskapitalismus mündete. Aus dieser Quelle stammen heute nicht nur große Anteile weltweit produzierter Elektrogeräte und elektronischer Konsumprodukte – die greifbaren Elemente von Hyper-Konsumtion. Es ist zugleich der Ort, an dem politische Bande über Ländergrenzen hinweg geknüpft werden, die mittels internationaler Verträge über Kredite, Rohstoffe und Arbeitsbedingungen befinden, welche für Jahrzehnte Geltung haben.
Die individuelle Konfiguration eines persönlichen Imaginären wird allerdings schwerlich Begriffe finden, die mit denen positivistischer Wissenschaften oder des Makropolitischen hierzu übereinstimmen. Man kann also fragen, was das den Wissenschaften allein aufgrund ihres Paradigmas Unzugängliche ansonsten ist. Mit der existenzialistischen Position von Jean-Paul Sartre etwa zu Faktizität oder Situation lassen sich derart relevante Felder ausmachen.
Ein weiteres Bild kann im Original im Pariser Musée Quai Branly betrachtet werden. Bezeichnenderweise liegt das Copyright inzwischen bei Getty Images-Corbis Historical-Leemarge. Ob die Verwendung im privaten Umfeld hier ist gestattet ist, weiß ich nicht, daher der Schleier. Die Copyright-Holder reklamieren Gebühren für die Veröffentlichung kollektiver Grausamkeiten! Was, ähnlich wie die ökonomische Logik von Kriegsbildern zeigt, wofür menschliches Elend immerhin gut ist: als mediale Ware zu fungieren. Das einprägsame Bild findet sich in einem Radiobeitrag des Deutschlandfunk Kultur von Julia Ley aus dem September 2020. Bild (unten im Beitrag):
https://www.deutschlandfunkkultur.de/geschichte-der-sklaverei-jahrhunderte-des-menschenhandels.1278.de.html?dram:article_id=484719
Man sieht Erwachsene und Kinder, die um 1859 deportiert werden – nach Amerika oder in die Karibik. Deren Leid braucht keine ergänzenden Worte. Dabei hatten die Indigenen Amerikas grausamste Formen von Ausbeutung, Tötung und importierte Pandemien erlebt, die einem gigantischen Genozid gleichkommen. Die Entwicklung der von den Kolonisatoren Hispaniola genannten Insel (Haiti und die Dominikanische Republik) zeigt, was die Ausradierung von Kulturen bedeutet.
Symbolische Logik, diffizile Ethik
Frantz Fanon reflektiert in Peau noir, masques blancs, das in den Neunzehnhundertzwanzigern für ihn aus solchen Quellen resultierende, auf Martinique Wahrnehmbare. Er ging dort zur Schule und machte eindrückliche Erfahrungen mit der Präsenz französischer Kolonialpolitik, bevor er dennoch für das Land in den Krieg gegen die deutschen Aggressoren zog.
Der Niederschlag des außereuropäisch immer noch intensiv diskutierten Feldes fanonscher Positionen ist ein vorwiegend intellektueller. Diese symbolische Dimension von Diskursen ist allerdings nicht mit Forderungen deckungsgleich, die in die politische Realität einmünden. Unabhängigkeitsbewegungen und staatliche Souveränität entbinden nicht vom Versuch des Zugangs zu transgenerativ auf der Ebene von Menschen weitergegebenen, defizitären Positionen – nicht nur im Sinne psychischer Traumata.
Kaum im Einzelnen, doch ökonomisch im Ganzen ist erkennbar, wohin die Überschüsse kolonialer Ausbeutung gelangten. Sie sind bis heute privatisierte Elemente sozialer und ökonomischer Macht.
Im achtzehnten Jahrhundert dominierten zwei ökonomische Theorien: Merkantilismus (Adam Smith) und Physiokratie (François Quesnay). Die Frage war, auf welchem Weg greifbarer, ökonomischer Wert entsteht – durch das, was der Boden hergibt oder durch etwas, das am Markt erzeugt wird. Beide Richtungen gingen Fehl zu erkennen, was in die nationalen Budgets der Kolonialstaaten darüber hinaus einfloss. In beiden Modellen war der Beitrag überseeischer Zufuhr, die keiner der beiden Quellen entsprang, ebenso ungreifbar wie überwältigend. Laissez faire war die einzig mögliche Konsequenz. Nicht steuern zu wollen, was einer anderen Form von Rationalität folgt.
Bis heute sind diese undurchsichtigen Zusammenhänge formierende Faktoren der Gestalt der Welt – egal, ob mental, physisch, symbolisch oder imaginär. Es bleibt ein geheimer Austausch von vager Wahrnehmung eines Objektiven und von Relikten von Wohlstand in dem, was man individuelles Unbewusstes nennen kann.
Das Bild des überfluteten Ahrtals zeigt auch, dass weder dort, noch anderswo, kaum jemand die skizzierten Verwicklungen berücksichtigen wird. Fortwährend wird vor allem Unmittelbarkeit mittels Tatkraft erzeugt, praktische Vernunft. Ein Blick auf eigene – ausschließlich unverbindliche und subjektive – außereuropäische Referenzgebiete macht deutlich, dass es keine Frage ist, wie im Begehren nahezu Aller Echos zutiefst ausbeuterischer Konnotationen mitschwingen. Dies im Detail zu zeigen ist ein anderer Zusammenhang, der schwer über Exemplarisches hinauszugehen vermag.
Vorab sicher jedoch dürfte sein, dass die hier exemplarisch herausgegriffenen Objektivitätsposten Virtualität und globale Kollektivität weiterer symbolischer Bearbeitung bedürfen, um die jeweiligen Defizitposten ausgleichen zu können. Wirklichkeit ist ohne ihre Genese weder phänomenologisch zu verstehen, noch bezüglich der transkulturellen und intergenerativen Wechselwirkungen.
Diese sind alles andere als ‚dialektisch‘ im philosophischen Sinn. Sie sind ebenso erkenntnistheoretische wie ethische Konfliktposten. Frage ist vor allem, von welcher Warte aus sie derart zugänglich sind, dass über sie auch alltagssprachlich verhandelt werden kann. Nämlich so, dass sie zum Alltagswissen der Menschen gehören. Die Ursachen ihres jeweils individuellen – unter Umständen krank machenden – Unbehagens wären dann auch ohne Inanspruchnahme von Spezialisten adressierbar.
Deren Einbindung in kulturübergreifende Reflexionen ruft nach einer erweiterten Dimension praktischer Intersubjektivität über Sprachgrenzen hinweg – sie zu realisieren bedarf großer Distanz zur Unmittelbarkeit von warenhaft vermitteltem Begehren.
Reflexive Position
Zusammen mit meinen Mitstreitern haben wir über Psychoanalysis in the Community gearbeitet, über Sprache, Armut und Begehren. Ich weiß nicht, ob sie diese Perspektiven solch fundamental formativer Grundlagen teilen. Was inhaltlich darauf hinausliefe, anzunehmen, dass zwei Stränge in ‚der‘ Kultur verbunden sind, nämlich Resonanzen von strukturellem Leid und Unterdrückung ebenso wie das affirmative Begehren, an Ausbeutung teilzuhaben und so individuell zu prosperieren.
Man kann solches kaum zum Gegenstand psychoanalytischer Diskurse machen, noch weniger zu dem wissenschaftlicher Bearbeitung. Weder im diskreten Sprechzimmer noch in offeneren Gruppensitzungen oder in Hörsälen wird schwerlich Jemand solche Zusammenhänge tatsächlich entfalten. Auch für mich ist es nicht einfach, solche übergreifende Aspekte in einer einzigen Sprache, dazu noch sozusagen als Autor, der einer Logik folgt, verbindlich zusammenzustellen. Daher der Versuch, einige Bilder zu Hilfe zu nehmen. Tatsächlich müsste die Verifikationsbasis breiter und intersubjektiver sein.
Sind dies vielleicht zentrale Posten des Unbewussten der Psychoanalyse selbst, die hier aufscheinen? Die vielen verschiedenen Wurzeln unserer so divergenten Kulturen und die unterschiedlichen Rollen der Subjekte, der Individuen, der Menschen darin?
Dieser Text ist die Nachwirkung einer sowohl theoretischen wie empirischen und hermeneutischen Arbeit. Er ist der Versuch, eine Idee einigermaßen verständlich auszudrücken, die sich zumindest subjektiv an einem Verständnis von Wahrheit und Verantwortung orientiert. Response sind ausdrücklich willkommen.
Juli 2021