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Dass doch alles anders wäre. Über Lüge, Phantasie und Objektivität

Ulrich Hermanns

Erschienen in: RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse. Herausgeber Peter Widmer, Nummer 87 (2018/1), Zürich: Vissivo 2018, 92-99.

Tell me lies, tell me sweet little lies …
Fleetwood Mac, 1987

Die nachfolgende Betrachtung der Lüge stellt weniger die Protagonisten ins Zentrum als vielmehr das sie Verbindende: eine Äußerung, die, ganz grob notiert, durch die Absenz von Wahrheit gekennzeichnet ist. Ob Wahrheit auf die Übereinstimmung von Vorgestelltem und ihrem Bezugsobjekt zielt oder einen Konsens von Aussagen oder Aussagesubjekten demonstriert – die Lüge ist deren Gegenteil. Sie handelt in komplexen Wahrheitssystemen, die für große Teile des kulturellen Fundaments stehen, ostentativ als Opponent. Dies zumeist situativ und singulär, sieht man von Totalisierungen wie etwa der Lebenslüge ab. Sofern Wahrheit strukturell der Fiktion nahekommt, gleicht sie der Lüge. Die Lüge aber schafft ihre Wirklichkeit durch ein gehöriges Maß an Arbeit, pseudologischer Arbeit.

Zur Binnenlogik des Discours de l‘Hystérique

Der hysterische Diskurs generiert Ketten von Signifikanten (S2). Sie konstituieren zugleich ein Mehrgenießen, le Plus-de-jouir.[1] Ein anderes lacansches Mathem der Siebzigerjahre notiert zwischen der Produktion und dem Platz der Wahrheit, la Vérité, den Vektor Impuissance, Unfähigkeit.[2] Der Weg zwischen den Signifikantenketten, die unter Umständen auch das gesamte Kunstschaffen enthalten, und der Wahrheit ist versperrt. Das gebarrte Subjekt ist der Akteur, die Akteurin in eigener Autorisierung. Ein lustiges, listiges Treiben, um einen Herrn zu dominieren – dominer un Maître.

Der Logik Lacans entsprechend ist der Maître aber in einem anderen, eigenen Diskurs unterwegs. Eine kleine Variation im Discours du Maître bringt den Discours du Capitaliste hervor.[3] Das gebarrte Subjekt verharrt nicht länger auf dem Platz der Wahrheit, sondern schwingt sich zum Agens auf. Dadurch wird das Band zerschnitten, das über den Herrensignifikanten eine Welt der Fülle von Signifikantenbündeln zu erschließen hat. Diese (S2) sind zugleich der Hort des Wissens. Eine «permanente Panne», die den «Wind unter den Schwingen» des Kapitalismus herbeiführt.[4] Innere Nötigung, die Welt der Warenproduktion auf der Seite des Ersatzes in Gang zu setzen, eine Art objektive Ökonomie von Wahrheit im Falschen, die ihrerseits das Mehrgenießen propelliert.

Die Kritik am Modell des Discours du Capitaliste ist vielfältig, Lacan selbst hat die Konzeption nur kurzzeitig vertreten, dafür aber umso eindringlicher.

Der hysterische und der kapitalistische Diskurs sind bezüglich der Rolle des Subjekts als Agent strukturell identisch. Freuds Vorstellung des Kapitalisten, wie er sie unter anderer Perspektive in der Traumdeutung skizziert, sieht in ihm «alle Male und unweigerlich einen Wunsch aus dem Unbewussten»[5]. Wunsch und Kapital werden von gedanklichen Tagesresten, das heißt nach Realisierung strebenden, doch über keinen eigenen Antrieb verfügenden Ideen unter der motilitätsgehemmten Kondition des Träumens aktiviert, zum manifesten Trauminhalt.

Sowohl im hysterischen wie im kapitalistischen Diskurs entfällt die Binnenfesselung der Motilität im Traum. Beide agieren im System W-Bw entsprechend Freuds Ausführungen in Das Ich und das Es und in der Neuen Folge der Vorlesungen[6]. W-Bw steht für Wahrnehmung, Bewusstsein. Hysterie und Kapitalismus haben beide eine unabweisbare Objektivität.

Die auf Dominanz zielende Strategie der Hysterie speist sich aus einem Phantasma ihrer Träger. «Was will sie, was will er?» mag sich objektiv die Adressatin, der Adressat fragen. Dabei können diese auch im Plural auftreten, Hysterie ist durchaus massentauglich. Wäre das Begehren bewusst, erschiene es also als Wissen, so verlöre es sein Drängen. Daher findet die Produktion der Signifikantenketten bewusstlos, unbewusst statt. Bilder, Gesten, Appelle, Texte, Szenen ergeben sich in abstufbaren Dimensionen. En gros sind es die von Platon etwa ihrer Wahrheitsferne wegen weitgehend diskreditierten Künste, en détail ist es insbesondere die Lüge.

Was aber macht, wenn die Ökonomie des und der Lügenden unbewusst verläuft, sie also Wunschproduktion ist, den Reiz gegenüber spezifischen Adressaten aus? Es sind die Lügen selbst, ihre Geschichten, Fiktionen, Signifikate. Dies ebenso wegen ihrer geschmeidigen Performanz, ihrer brüsken Provokation, ihrer inneren Verführungskraft, der ostentativen Präsentation, schamlosen Rückhaltlosigkeit eines abgründigen Begehrens sowie der Untrennbarkeit von Subjekt der Aussage und Subjekt der Äußerung.

Lügen sind in dieser Hinsicht, vor allem mit Nietzsches Geleit, die gesamte Welt der Illusion von Wahrheit, eingeschlossen Wissenschaft und sprachliche Verständigung.[7]

Betrug, Täuschung, fauler Zauber …

Die Nicht-Betrogenen irren.[8] Nichtbetrogene Irre. Die kleine lautliche Verschiebung (la lancée) des Nom-du-père öffnet eine Perspektive auf die Welt, deren vermeintlich verlässliches Ankertau keinen tauglichen Boden mehr findet. «Wer hat denn das Kommando hier?», fragt Captain Willard, der gebrochene Held in Coppolas Apocalypse Now, nächtens einen Soldaten an der Do Long Bridge, als er den sicheren Sektor auf dem Mekong verlässt. «Bist es nicht Du?», so die drogierte Antwort. Das Grauen nimmt seinen Lauf.

Welchen Halt bietet also die symbolische Ordnung? Es sind deren Diskurse, so zirkulierend das Begehren darin ist.

Ein Diskurs ist was? Es ist das, was in der Ordnung, in der Verordnung, dessen, was sich mittels der Existenz der Sprache produzieren kann, als soziales Band fungiert,

so Lacan 1972 im Discours psychanalytique.[9]

Das soziale Band aber inkludiert die ökonomische Makroordnung, die Dingproduktion, ebenso wie die immateriellen Schöpfungen und die solches fundierenden Produktivkräfte – Zeichen, Wünsche, Arbeit, Kapitaläquivalente – und ihre gesellschaftlichen Funktionsgaranten.

Das Begehren des Menschen findet seinen Sinn im Begehren des anderen. Und das nicht so sehr, weil der andere den Schlüssel zum begehrten Objekt besitzt, sondern vielmehr weil sein erstes Objekt darin besteht, vom anderen anerkannt zu werden,

so charakterisierte Lacan in Funktion und Feld des Sprechens das Verbindende auf der Ebene des Begehrens.[10]

Indem Lacan Hegels Modell von Herrschaft und Knechtschaft folgt, die Bedingungen aber auf das Feld der Diskurse zieht und es somit aus der Sphäre von Bewusstsein und Geist herausführt, vollzieht er den Bruch mit adäquationsbasierten Wahrheitstheorien. Ausschnitthaft auf die Diskursmatheme bezogen, zeigt sich, dass ein durchaus arbiträr gesetzter Platz der Wahrheit von allem eingenommen werden kann, was im Diskurs eine Rolle spielt. Es ergeben sich lediglich unterschiedliche Figuren. Allerdings sind diese so weit gedehnt, dass sie große Partien dessen abdecken, was sich als Wirklichkeit erfahren lässt.

Dass es aus psychoanalytischer Perspektive um keine Fundamentalontologie gehen kann, versteht sich von selbst. Philosophie als Disziplin trifft aus dieser Sicht gar das Verdikt der Hysterie.[11] Bei Freud lautete die Charakterisierung im Extrem: Psychose.[12] Die adäquate Hysterie-Analogie war für Freud Kunst, womit sich der hier vorgestellte Kontext der Signifikantenketten objektivierter Phantasie bestätigt.

Wo wäre, bezüglich des fundamental aus dem materiellen Wahrheitsverständnis mittels Adäquation von Dingen und Vorstellungen herausführenden Konzepts der gegenseitigen Anerkennung dessen Weiterführung in greifbare, psychoanalysenahe Begrifflichkeiten zu verorten? Zweifellos im Geschlechterverhältnis. Wo Hegel zwischen Herrn und Knecht keine sexuelle Differenz implementiert, was zweifellos zur Homogenisierung der über die zentrale Figur des Selbstbewusstseins erschlossenen Geistes- und Geisterwelt führt, endete die Parallelisierung von «äußerer Weltgeschichte» und «begriffener Aufgefasstheit» bereits hier.[13]

Die konkrete Ausführung einer Variante des auf Geschlechterdifferenz basierenden Anerkennungsstrebens führt Kleist in der Penthesilea aus. Dort ist es Achilles, der sein Begehren maskiert und so das Drama des offen ausgesprochenen weiblichen Begehrens über seine gleichwohl medial bedingte Verschlossenheit – es handelt sich um die Textvorlage zum Drama – hinaus motiviert.[14]

Das Problem ist die Annahme des Begehrens des Anderen. Auf die Anerkennung des Selbst zielend, birgt dieses umfassende Fallstricke, die mit der Virtualisierung des Anderen, seiner Mentalisierung, auch mit Sartres Autrui[15] eng verbunden sind. Eine komplette Entwicklungsgeschichte des Selbst wäre abzuarbeiten, um dies zu erläutern.

Abgekürzt betrachtet fände sich die große andere Variante in der idealisierten Form romantischer Liebe als Ausweg. Auch die Konzeption der Liebe, welche zu  christlicher Erlösung führt. Dies sind wiederum fundamentale Kulturposten, welche die Problematik auf der Ebene von Objektivität konkret abarbeiten.

Die Auflösung des Herrschaft-Knechtschaft-Banns erfolgte komplett anders, fände sich unmittelbar dort bereits forcierte Sexualisierung. Erst einhundertfünfzig Jahre später kommt sie in den Séminaires Lacans zur Revision. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass die Ausblendung allen Politischen und Ökonomischen im idealistischen Idiom deren ungestörte Entfaltung im Objektiven – des Ausbleibens von Kritik wegen – unterstützt hat. Lacans versuchter Anschluss an Marx im Discours capitaliste nimmt den einzig verbliebenen Gegenposten bewusst auf – für einen Moment allerdings nur.

Pseudologia phantastica

Solch umfassende Perspektiven sind dem normalen Lügner und dem Lügen als individueller Sozialtechnik fremd. Auch wenn im politischen Kontext entdeckte Lügen durchaus offenbaren können, wie sehr Objektivität ein Prozess des Verschiebens von Positionen ist, um deren Wahrheitskern zu verschleiern. Nicht nur Watergate einst und der Blutzoll, den Völker für die politischen Lügen zu zahlen hatten, zeugen davon. Die Spuren führen mitten in das Hic et Nunc hinein.

Was tut also der schamlos Lügende – wobei es nicht gleich ist, wie die geschlechtlichen Positionen der sich dem pseudologischen Diskurs Aus- oder Entgegensetzenden organisiert sind? Eine Scheinwelt im Akt der Äußerung entstehen zu lassen, als Garant des Sinns ad personam dafür einstehen zu müssen, erfordert Phantasie und Mut.[16] Beide müssen dem aktivierten Potenzial des Adressaten überlegen sein. Dies zu erreichen, spielen Effekte – Überraschung, Verwunderung, Schreck – eine ebenso große Rolle wie die Zeit. Zeit, die den Belogenen nicht zur Verfügung steht, im Akt der Lüge das Wahrheitsfundament zu erkunden. Die Lüge selbst ist in solchem Sinn eine Kreation von Wahrheit über den Zustand der Welt und die Unfähigkeit des Subjekts, sich dessen innezuwerden, ohne dass es seine akkulturativ generierten Identitätspositionen aufgeben muss.

Daher auch die affektiv aufgeladenen Reaktionsszenarien, sobald der Schein der Lügen durchschaut zu werden droht. Die Fundamente des Selbst wanken, Vertrauen, Wahrheit, eigenes Begehren stehen in Zweifel. Sind denjenigen ausgeliefert, die mit dreister Pseudologie eine unverhoffte Gegenwelt annoncieren. Das Manische des Lügens als Praxis mag seinen Reiz daraus beziehen, diese graduell differenzierte Verwirrung der Adressaten auszukosten und darüber hinaus auf dem Pfad des phantasievollen Signifikats Genuss als Mehrwehrt zu generieren, sublimen Plus-de-jouir.

Solche Produktivität als Posten narzisstischer Störung zu annoncieren, Hypostasierung des Selbst auf Kosten der Einsicht in konkrete Kreatürlichkeit und Generativität, sich nicht dem Begehren des Anderen anerkennend zu unterwerfen, ist zugleich Repräsentation eines Objektivierungsverhältnisses, welches Welt als solche erst präsent macht. Wie immer die beglaubigenden Größen offiziell lauten, Geld, Gott, Kreativität – die Lüge setzt ihnen im Einklang mit neutestamentlicher Offenbarung eines entgegen – das Wort. Und aktiviert die affiliierte Kategorie, den Glauben.

So zielt das Telos des Lügens auch auf Gemeinschaft. Die auf Metonymie oder Metapher gerichtete Arbeit der Verdrängung hat der Camouflage gegenüber wenig Bestand. Statt sich bloßer Unbewusstheit zu ergeben, sucht die Lüge die Szene. Daher ist auch die Äquivalenzwährung Schuld nur bedingt anzutreffen. Phänomenologisch skizziert und theoretisch ungedeckt sind in Momenten der Einsicht remorse Haltungen des lügenden Subjekts die treffenderen, das heißt unbestimmte Reue und Unterwürfigkeit dem Belogenen gegenüber, stärker noch dem Betrogenen. Bitte um Vergebung. Kontrastierend zum performativen Lügengespinst gewinnt im Moment der Enttarnung ein unmissverständlicher Appell an Eindeutigkeit die Oberhand. Unterwerfung. Geste.

Dass solches Agieren manische Züge annehmen kann, ist leicht ersichtlich, bedarf doch gelingende Vergebung notwendig der Anderen – der Nicht-Betrogenen, die sich aber final irren. Erlösung ist also nicht das Ziel.

Die wenigen eigenen Fallstudien, vier an der Zahl, unveröffentlicht, lassen mich nur vermuten, wo im kindlichen Erschließen der Welt die Neigung zu elaborierten Lügengebäuden gründet. Lügenwelten, die bis in den objektiven Betrug hinein sich fortsetzen, damit an der Grenzlinie zur Kriminalität agieren. Wobei Kriminelles die Einschreibung in Objektivität forciert, damit dem Rekurs auf wiedereingeholtes Verdrängtes weitgehend den Boden entzieht. Schuld wird dann zur kollektiv verordneten Kategorie.[17]

Die grundlegenden Züge scheinen mir in der Struktur des kindlichen Phantasmas eingeschrieben zu sein. In dem einzigen männlichen Fall handelt es sich um Unzugänglichkeiten zum Vater, der kriegsbedingt absent war, praktisch nicht greifbar. Seine Spuren hinterließ er jedoch in den unübersehbaren Resultaten sporadischer Anwesenheit, den dann gezeugten Geschwistern. Als herkunftslose Spukwesen mögen diese dem später nachhaltig pseudologisch Agierenden erschienen sein. Es wäre zu umfangreich, die weitere Entwicklung hier auszubreiten.

Eine weibliche Variante reproduziert im pseudologischen Phantasma frühkindliche Bedrohungen der Relation zu den familialen Außenposten und der damit einhergehenden Lebenssituation. Die Protagonistin gibt offen zu, dass ihre erfundenen Geschichten der Sicherung der äußeren Position im Erwachsenenleben dienen. In früher Kindheit war sie durch wechselnde Partnerschaften der Mutter zu zahlreichen Stiefgeschwistern gekommen und erziehungstechnisch zeitweilig zu Stiefmüttern, Großmüttern, Stiefgroßmüttern und Tanten gegeben worden. Identitätsorientiert unter Druck geraten, war sie vermehrt auf sich selbst angewiesen. Auch hier wären Details zum weiteren Verlauf zu umfangreich.

Maßgeblich ist der Wunsch, die Welt wäre anders. Dies geht einher mit dem Impuls, die verfügbaren eigenen Kräfte zu mobilisieren, um diesen phantasieinduzierten Realitätsposten zu halten und zu modulieren. Dass solches mit der Einbuße an Vertrauen dem konkreten Anderen gegenüber verbunden ist, die Rückbindung der Vergewisserung stattdessen bevorzugt sich an das eigene Ich richtet – Eitelkeit –, impliziert unter Umständen lebenslange Kompromisse.

In gewisser Weise führt sich die ostentative, in eigene Regie gestellte Übernahme des Signifikanten der Realitätsprägung, vielleicht als verspätete Wiederholung, selbst an den markanten Punkt des Spiegelstadiums, den Ort, an dem «die wahre Reise beginnt».[18]


[1]    Das Mathem zum Discours de l’Hystérique – in: Jacques Lacan: «Du discours psychanalytique, Discours de Jacques Lacan à l‘Université de Milan le 12 mai 1972», in: Lacan in Italia 1953 – 1978, Milan: La Salamandra 1978, S. 40.

Die Plätze der Einheiten wären entsprechend der Ausführung in Encore (siehe Anmerkung 2) in der Übersetzung von Norbert Haas: Wahrheit (unten links), Agens (oben links), Anderer (oben rechts), Produktion (unten rechts).

[2]    Jacques Lacan: Le Séminaire Livre XX. Encore. Paris: Éditions du Seuil 1975, 26.

[3]    Das Mathem zum Discours du Capitaliste – in: Lacan, «Du discours psychanalytique», S. 40.

[4]    Die Verhältnisse verdeutlicht Lacan bildhaft in «Du discours psychanalytique», S. 48–50.

[5]    Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Studienausgabe Band I., Frankfurt am Main: S. Fischer 1972, S. 535.

[6]    Sigmund Freud: «Das Ich und das Es», in: Ders.: Studienausgabe Band III. Frankfurt am Main: S. Fischer 1975, S. 293.
Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse / Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Studienausgabe Band I. Frankfurt am Main: S. Fischer 1969,  S. 515.

[7]    Friedrich Nietzsche: «Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne», in: Nietzsches Werke, Zweiter Band. Stuttgart: Alfred Kröner 1921, S. 10: «Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.»

[8]    Jacques Lacan: Le Séminaire. Livre XX ;. «Les non dupes errent»; verschiedene, nicht autorisierte Ausgaben.

[9]    Lacan: Du discours psychanalytique, S. 51: «Le discours c’est quoi ? C’est ce qui, dans l’ordre […] dans l’ordonnance de ce qui peut se produire par l’existence du langage, fait fonction de lien social.»

[10] Jacques Lacan: «Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse». Vortrag auf dem Kongress in Rom am 26. und 27. September 1953 im Istituto di Psicologia della Università di Roma. In: Ders.: Schriften 1., Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975 (Taschenbuch Wissenschaft), S. 108.

[11] In Verallgemeinerung von Lacans Charakterisierung des hegelschen Diskurses – «Hegel, le plus sublime des hystériques, nous désigne étant celle [le place] de la vérité.» Jacques Lacan : Le Séminaire Livre XVII. L’envers de la psychanalyse. Paris: Éditions du Seuil 1991, S. 38. 

[12] «Man ist bereit zu verfolgen, welche Erfüllungen dieselben [Wünsche nach Einheitlichkeit der Weltanschauung] sich in den Leistungen der Kunst, in den Systemen der Religion und der Philosophie geschaffen haben, aber man kann doch nicht übersehen, daß es unrechtmäßig und in hohem Grade unzweckmäßig wäre, die Übertragung dieser Ansprüche auf das Gebiet der Erkenntnis zuzulassen. Denn damit öffnet man die Wege, die ins Reich der Psychose, sei es der individuellen oder der Massenpsychose, führen […].» Freud, Vorlesungen, S. 587. Weiter ausgeführt wäre die entsprechende individuelle Psychose Paranoia.

[13] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes [1807], Frankfurt am Main: Suhrkamp (Taschenbuch Wissenschaft) 1973, S. 590 [VIII Das absolute Wissen].

[14] Zur Doppelzüngigkeit des Achilles zwei Positionen in unterschiedlichen Umgebungen:
Vierter Auftritt, Vers 608ff. Achilles, der sich den Helm aufsetzt, zu Odysseus, Diomedes, Antilochus, Automedon:
«Die Schäferstunde bleibt nicht lang mehr aus:
Doch müßt ich auch durch ganze Monden noch,
Und Jahre, um sie frein: den Wagen dort
Nicht ehr zu meinen Freunden will ich lenken,
Ich schwör's, und Pergamos nicht wiedersehn,
Als bis ich sie zu meiner Braut gemacht,
Und sie, die Stirn bekränzt mit Todeswunden,
Kann durch die Straßen häuptlings mit mir schleifen.»

Elfter Auftritt, Vers 1414ff. Achilles, ohne Helm, Rüstung und Waffen, bei den Amazonen:
«Laßt, laßt!
Mit euren Augen trefft ihr sicherer.
Bei den Olympischen, ich scherze nicht,
Ich fühle mich im Innersten getroffen,
Und ein Entwaffneter, in jedem Sinne,
Leg ich zu euren kleinen Füssen mich.»

Das Begehren Penthesileas spricht im neunten Auftritt, Vers 1187ff.:
«Ist's meine Schuld, daß ich im Feld der Schlacht
Um sein Gefühl mich kämpfend muß bewerben?
Was will ich denn, wenn ich das Schwert ihm zücke?
Will ich ihn denn zum Orkus niederschleudern?
Ich will ihn ja, ihr ewgen Götter, nur
An diese Brust will ich ihn niederziehn!»

Heinrich von Kleist: «Penthesilea. Ein Trauerspiel» In: Ders.: Dramen. Zweiter Teil. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 41976 , S. 161–258, hier: S. 179, 196f., 205.

[15] Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie [1943]. Frankfurt am Main: Rowohlt Taschenbuchverlag 112005.

[16] Derzeit ist es noch zu früh, die Konsequenzen «postfaktischer Diskurse» und «alternativer Wahrheiten» im Detail zu ziehen. Das von August Ruhs konstatierte «allgegenwärtige Leuchten der Bildschirme» aber ist zweifellos das Einstiegstor in eine umfassend virtualisierte Wirklichkeitsauffassung, der die Überprüfungs- und Rückbindungsmöglichkeiten zunehmend abhanden kommen (August Ruhs: Lacan. Eine Einführung in die strukturale Psychoanalyse. Wien: Löcker 2010, S. 104).

[17] Vgl. Ulrich Hermanns: In the Heart of the Wild Triangle. Resonances from the Kenyan-German Other (Novel). Düsseldorf: Peras Verlag 2014.

[18] Jacques Lacan: «Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint», in: Schriften I. Olten und Freiburg im Breisgau: Walter 1973, S. 70.

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Dass doch alles anders wäre. Über Lüge, Phantasie und Objektivität

Lüge korreliert mit Objektivität. Die Position des Lügens rührt an die soziale Bedingtheit existenzieller Fundamente. Lügnerin und Lügner arbeiten und produzieren, indem sie ihren eröffneten Phantasiewelten den Status von Wahrheit zu verleihen suchen. Dabei kommt ihnen die diskursive Vermittlung von Objektivität zu Hilfe.

Lüge – Wahrheit – Hysterischer Diskurs – Kapitalistischer Diskurs – Illusion – Symbolische Ordnung – Soziales Band – Herrschaft und Knechtschaft – Geschlechterverhältnis – Begehren des Anderen – Schuld

That everything should be different. On lies, imagination and objectivity

Lies are deeply related to objectivity. The position of lies touches the social conditioning of existential foundations of reality. The target of male and female liars is to give a status of truth to the phantasy worlds they create. They benefit from the fact that objectivity is the result of complex intermediation.

Lies – Truth – Hysteric Discourse – Capitalist Discourse – Illusion – Symbolic order – Social ties – Master-slave dialectic – Sex ratio – Desire of the Other – Guilt

Que tous serrait différent. Le Mensonge, l’imagination et l’objectivité

Le mensonge est en corrélation avec l’objectivité. La position de mentir touche le fait que tous fondations existentielles sont dûs à un consensus social. Menteuse et menteur travaillent et produisent avec le but que leur mondes imaginaires créent un statut de vérité. Ils bénéficient de l’intermédiation de l’objectivité.

Mensonge – Vérité – Discours de l’Hystérique – Discours du Capitaliste – Illusion – Imaginaire – Ordre symbolique – Lien social – Le maître et l'esclave – Désir de l'Autre – Culpabilité

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