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The Value of Everything – Consumption Included. Zu Mariana Mazzucato, The Value of Everything

Ulrich Hermanns

Der Wert von Allem – in diesem übermächtigen Topos schwingt ein verheißungsvoller Anspruch von Wissen mit, dessen Reiz eher in die poetischen denn bilanztechnischen Regionen einer Frage verweist, die nur mit Erstaunen sich im Inneren einer geradezu kindlichen Seele zu stellen vermag.

Wer würde nicht gern die wunderbare Fähigkeit besitzen, diesen sagenhaften Wert zu kennen? Und dabei auf all das erhaben zu blicken, dessen subtile Bestimmungen den Schatz ausmachen, der ebenso verlockend wie unschuldig blinkt? Auf alles … Außer der lichtdurchtränkten Doppelfigur von Perzeption und adressiertem Selbst oder ist nicht eher ein Kontinuum gemeint, das die Beauftragten dieses Kalküls mit einschließt?

Wealth of Nations

Wer über den strahlenden Glanz eines gigantischen und gleichwohl bilanzierten Wertkompendiums hinaus mehr über die inneren Geheimnisse der Erzeugung von Wert, Werten und dem individuellen Umgang mit ihnen Grundlegendes zu erfahren hofft, wird in Mariana Mazzucatos Buch[1] nur bedingt fündig. Deren Existenz wird vorausgesetzt, diskutiert wird, was in makroökonomische Ordnungen jeweils positivistisch ermittelbar eingegangen ist. Einschließlich der Fragwürdigkeit solcher Grundlagen an vielen Stellen, beispielsweise bezüglich der sinnvollen Berechnung eines Gross Domestic Product (Bruttoinlandsprodukt).

Mazzucatos Kritik ist dieser Hinsicht unmissverständlich. Deutlich stellt sie die Gleichsetzung von Wert und Preis infrage, welche auf die neoklassische Interpretation von Überlegungen der Grenznutzenschule zurückgeht. Das Axiom dort lautet: Value is in the eye of the beholder und bedeutet, dass alles, wofür ein Preis bezahlt wird, als ebensolcher Wert verstanden wird.   

Der zweite große Kritikposten ergibt sich aus der Erörterung der frühen ökonomischen Konzeptionen der Neuzeit bezüglich der Quellen von Wert Im ersten Kapitel: Landwirtschaft (Quesnay), Arbeitsteilung (Smith) und menschliche Arbeit (Marx).[2] Er bezieht sich auf die Frage nach dem Umgang mit dem erzeugten Mehrwert und präludiert zugleich die im Weiteren zentrale Frage nach dessen Verteilung, welche die folgenden acht Kapitel durchzieht – value creation versus value extraction.

Mit François Quesnay und Adam Smith weist sie vor allem die auf unproduktiver Arbeit beruhenden Entnahmen von Pachten und Zinsen ab. Auf heutige Verhältnisse bezogen betrifft dies insbesondere die Bewertung des Beitrags der Finanzindustrie zur Wertschöpfung. Ökonomische Theorie kann dabei die bestehenden, solche Entnahmepraxis rechtfertigenden Rechtsordnungen nur zur Kenntnis nehmen. Die aufgrund des Verhältnisses von Faktizität und unproduktiver Abschöpfung veranlasste Klage bleibt so unvermittelt im Raum.

Wie vieles andere gleichermaßen, versteht Mariana Mazzucato ihre Zusammenstellung, wie oft angemerkt, als Aufruf zur Diskussion. Angesichts der weitreichenden Verzahnung der kritisierten Berechnungsgrundlagen und -methoden ist absehbar, dass schnelle Korrekturen innerhalb der durch weltweite Standards verbundenen Institutionen schwerlich zu erwarten sind. 

Neu zu bewerten sind der Autorin zufolge zwei weitere Bereiche. Erstens die Rolle von Innovationen, welche häufig mittels einhergehender Patente ebenfalls zu unberechtigter Abschöpfung von anderswo erzeugtem Wert führen und zweitens der in der breiten Diskussion meist negativ dargestellte Anteil des öffentlichen Sektors an Produktivität. Die vielen Beispiele reichen vom rigiden Festsetzen der Preise für spezielle Pharmazeutika anhand von fiktiven Werten für die Lebenserhaltung der Patienten (value) über die Ausnutzung von Monopolpositionen der Internetgiganten bis zur Investitionstätigkeit von Institutionen wie ehedem die NASA, dem National Health Service des Vereinigten Königreichs oder Aktivitäten zur Bankenrettung – und damit, so Mazzucato, der Rettung der marktwirtschaftlichen Ordnung als Ganzes – infolge der Krise 2008.

Viele Thesen wirken ohne die schlagenden Beispiele zunächst etwas unverständlich. In vorangehenden Arbeiten sind aber genau diese Bezugsposten von Mazzucato ausgiebig untersucht worden, nicht zuletzt kürzlich (2018) im Auftrag der Europäischen Kommission.

Für die Aktivitäten des öffentlichen Sektors lautet ihr Credo: Er schafft Werte am wirksamsten, wenn erstens breite Strukturen der Vernetzung mit dem privaten und dem dritten Sektor[3] bestehen und ein konkretes Problem zu lösen ist. Zu den großen Aufgaben rechnet Mariana Mazzucato unter anderem den Klimawandel, gesunde Ernährung und Gesundheitssystem, erfüllende Arbeit, gleiche Bezahlung und die Beseitigung von Ungleichheiten zwischen Ländern – entnommen ihrem Buch und einem begleitenden Interview.

Social well-being ist ihre Definition des Ziels ökonomischer Aktivitäten. Dieses trifft sich mit dem Verständnis der Klassiker, insofern productive labor für sie etwas war, das den Wert von Produziertem erhöht – im Gegensatz zu unproductive labor, die solches nicht tut.

Dass solcher Wert nicht notwendig materiell zu sein hat, der sich in bestehenden Gesamtrechnungen messbar darstellt, sondern durchaus immateriell sein kann, ergibt sich aus dem genannten Zielportfolio.

A better Future for All[4]

Dass die international agierende Ökonomin Mariana Mazzucato mit Wert (value) sich vor allem auf die in Gesamtrechnungen bilanzierten Faktoren bezieht ist nachvollziehbar. Die von ihr reklamierte kollektive Perspektive erweitert jedoch den Bezugsrahmen in qualitativer Hinsicht. Hätte sie den Fokus zudem noch etwas stärker auf die grundlegende Differenzierung von Gebrauchswert (use value) und Tauschwert (exchange value) ihres Gewährsmanns Karl Marx gelegt, hätte sich der Zugang auch zu dem ergeben, was in der Konsumtion entweder produktiv ist (produktive Konsumtion) oder einem unmittelbaren Verbrauch anheimfällt (individuelle Konsumtion). Der marketingtechnische Term ‚Konsument‘ charakterisiert vorwiegend eine Funktion, welche Menschen in anthropologischer wie sozialer Hinsicht nur ausschnitthaft wahrnehmen.

Nimmt man ihre andere Seite, die des Schaffenden, Produzierenden hinzu, ergibt sich der Anschluss an die politische Sphäre klarer, insofern sie viel umfassender ist, als in jeder bloß funktionellen Sicht wahrnehmbar. Es ergibt sich die Notwendigkeit, die Übersicht über Zusammenhänge zu wahren, die aus lediglich unmittelbaren, individuellen Beiträgen zu wirtschaftlichen Werten nicht begrifflich ableitbar ist. Weder eine antike Philosophie der Ideen, noch die klassischen Systeme der Vernunft liefern die nötigen Gegenstücke zu den ausschnitthaften Perspektiven der Economics als Wissenschaft.

Über ein schlüssiges Konzept erst verfügt vielmehr eine Ökonomie des Begehrens – Begehren, abgeleitet aus der Psychoanalyse über den Begriff der Libido. Eine solche Sicht erklärt, weshalb kein bloßer ‚Nutzen‘ allein Motiv der wechselseitigen wirtschaftlichen Partizipation auf den Seiten von Produktion und Konsumtion sein kann.

Wo Begehren dann zugleich eine Schleife der Vernunft in Richtung angestrebte Übersicht des Ganzen durchläuft, vermittelt sich der Anschluss zu ‚Wert‘ als auch ethischem Anspruch an das Selbst und den Anderen.

Der magische Titel The Value of Everything lässt daran glauben, dass solches Kontinuum mittels interkultureller Landkarte auch begrifflich weiter zugänglich ist.



[1]    Mariana Mazzucato, The Value of Everything. Making and Taking in the Global Economy, London 2018: Alan Lane; 2019: Penguin Books. Deutsch: Wie kommt der Wert in die Welt? Von Schöpfern und Abschöpfern, Frankfurt am Main: Campus Verlag 2019.

[2]    Im ersten Kapitel zielt die Erörterung der frühen ökonomischen Konzeptionen der Neuzeit einerseits auf die Quellen von Wert: Landwirtschaft (Quesnay), Arbeitsteilung (Smith) und menschliche Arbeit (Marx).

[3]    Third sector. Hier finden sich Not-for-profit Organizations ebenso wie Gewerkschaften. In einem Interview findet sich Mazzucatos Statement: ‘We would not have the 8-hour workday; we would not have children not working in the factories without trade unions fighting for that. Which was a fundamental force in capitalism to make it work as it currently does.’ Siehe: http://www.econtalk.org/mariana-mazzucato-on-the-value-of-everything/

[4]    Mariana Mazzucato, The Value of Everything, S. 279.

 

Mariana Mazzucato, The Value of Everything. Making and Taking in the Global Economy, London 2018: Alan Lane; 2019: Penguin Books.


 

 

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