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Spürlose Sinnlichkeiten – Begehrensökonomische Skizzen zur Vermittlung von Unbewusstem und Gesellschaftlichem

Ulrich Hermanns

 Le malheur de l’homme de couleur est d’avoir été esclavagisé.

Le malheur et l’inhumanité du Blanc sont d‘avoir tué l’homme quelque part.

Frantz Fanon, Peau noir, masques blancs

Die Lust und die Dinge

Ich möchte mit einigen kurzen und kompakten Gedankeneinheiten zum Verhältnis von leib-seelischer Binnenökonomie und ökonomischer Makrostruktur Stellung nehmen.

Meine zentrale und nahezu banale These ist, dass die beständige Präsenz makroökonomischer Verhältnisse nur möglich ist, weil die individuellen Leib-Seele-Einheiten, die Menschenwesen, nicht umhin können, sie in kollektiver (Dis-)Harmonie fortwährend herzustellen, sie zu reproduzieren.

Das heißt, der Fortbestand der Welt ist kein quasi-autonomes Geschehen, das mit großer Wahrscheinlichkeit objektiv garantiert ist, sondern ein auf Abläufen in den Einzelseelen der Menschenwesen beruhendes Verbundgeschehen, das leibliche Körper, Dinge und Institutionen so arrangiert, dass kontinuierliche Dysfunktionen sowie der Appell, sie auszugleichen, zentrale Triebkräfte des Sozialen im Allgemeinen und der Kultur im Besonderen sind. Der Appell ist ebenso ein kollektiv geäußerter wie individuell vernehmbarer. Er wirkt zugleich auf das Arrangement des Verbundsystems zurück und schafft damit etwas wie Wahrnehmbarkeit von Wirklichkeit. Es gibt demnach also ein externes Über-Ich.

Im metaphysischen Aspekt dieses Konzepts wird die prästabilierte Harmonie nicht durch den Signifikanten Gott garantiert, wie noch im leibnizschen Idealismus, sondern durch die Réalité humaine, die menschliche Realität. Es wird also neben der metapsychologischen eine existenzial-ontologische Position bezogen. ‚Das Sein ist Begierde‘, so lautet eine grundlegende Bedingung im Durchlauf vom prä-reflexiven Cogito zur Psychoanalyse der Dinge bei Sartre.[i] Indem aber das vermeintlich Transzendente des gebietenden Gesetzes in das rein Irdische gezogen wird, bricht der metaphysische Autoritätsposten in sich zusammen. Das verbleibende System ist potenziell wahnhaft, auf sich selbst als einzige Referenz bezogen.

Das bleibt auch so, wenn wir den Posten des Anderen mit ähnlichen metaphysischen Positionen verbinden, wie es Lacan, allerdings mit anderer Akzentuierung, mit den Diskursmathemen unternommen hat.[ii] Einzig im analytischen Diskurs können Wahrheit und Wissen zusammenfallen. Allerdings um den Preis, dass die Mehrlust des Ganzen vom Signifikanten beherrscht wird. Selbst die vorgeschaltete Ausleuchtung des Binnenverhältnisses von Herrschaft und Knechtschaft[iii] bringt nur Progress im Homogenen hervor.

Der Ausweis expliziter Geschlechts- und Generationsdifferenzen als grundlegende Orientierungsgrößen im Diesseits eines Ich erlauben, den metaphysischen und ontologischen Dimensionen konkrete Positionierungen auf der Basis der freudschen Ödipus-Konzeption zuzuweisen. Der Preis ist, dass das jeweils andere Geschlecht gleichwohl zu einem wird – alle Libido ist männlich, so Freud –, oder alternativ zum Geschlecht, das nicht eines ist, so Irigaray.[iv]

Auf dem Weg, das Desiderat im ödipalen Identitätsmodell zu beseitigen, nämlich die Durchkreuzung des gesellschaftlichen Feldes als kollektives Organon der Wunschvermittlung zu verstehen, entschlüsselte Freud die Arbeit der Todestriebe.[v] In seiner Metapsychologie fand sich allerdings kein direkter Weg zurück zu dessen Repräsentanz in den Dingen wie in den jeweils individuellen Schicksalen der Menschen. Der Todestrieb verblieb auf der Ebene der Kulturtheorie.

Mit dem Anti-Ödipus unternahmen Deleuze und Guattari[vi] den Versuch, das psychoanalytisch erschließbare Feld als das Resultat einer externalisierten und extern agierenden Ökonomie des Wunsches auszuweisen, eines Wunsches, der seine Dynamik mehr oder weniger sich selbst verdankt. Das Konzept kann trotz breiter Eloquenz nur ganz knapp nicht aufgehen, da die notwendigen Maschinen, beziehungsweise maschinellen Wunschverkettungen, hypothetisch bleiben respektive endloser Beweise bedürfen, wie sie sich jeweils in den Kulturprozessen deduzieren lassen.

Dass jedoch der Antrieb und das Geschehenmachen massiver äußerer Einflussgrößen über individuelle Anerkennung und Einschätzung aufgrund persönlicher Ödipus-Erfahrungen hinausgehen müssen, ist unverkennbar. Wenn im Kinderspiel, wie Melanie Klein[vii] gezeigt hat, Symbolisierungen von Natur- und Technikdingen in engem Zusammenhang mit der individuellen Verstehbarkeit komplexer Begehrenssituationen stehen, dabei aber in vielerlei Hinsicht nicht über eindeutige, sondern ambivalente Verständnisdimensionen verfügen, sind Rückschlüsse auf die Bedeutungsdimension dieser Dinge und die Rolle des individuellen Begehrens grundsätzlich möglich.

Der alte Streit über den Idealismus oder Realismus unserer Begriffe muss allerdings zurücktreten hinter die Tatsache, dass eine Dimension der Sprache zunächst erschlossen und verfügbar sein muss, um auf spezifisch diskursive Weise Begehrensökonomie aus der Unmittelbarkeit von Wirkzusammenhängen herauszulösen.[viii] Es muss eine ‚verbale Liquidierung‘ von Bewusstsein und Selbstbewusstsein stattfinden. Lacan hat in Bezug auf verschiedene Grundbegrifflichkeiten der freudschen Psychoanalyse gezeigt, wie sehr sie Signifikanteneffekte sind, beispielsweise die vaterdominierte Urhorde, deren Konzeption für Freud so entscheidend dafür ist, Kulturerscheinungen über das Schuldgefühl zu definieren.[ix]

Was immer auf der Seite des möglicherweise verbal Liquidierten – das heißt des sowohl erschlossenen als auch unzugänglich Gemachten – steht, es muss in institutioneller Gestalt greifbar sein, das heißt nicht nur als autonomes Ding, sondern auch als vermittlungssuchende und dieser Vermittlung durch Subjekte bedürftigen Funktion, soll es begehrensökonomisch erschlossen werden können. Unter solche Institutionen lassen sich begriffliche Konzeptionen ebenso fassen, wie die großen gesellschaftlichen Einheiten (Signifikanten): Arbeitsteilung, Nationalstaaten, Rechtssysteme (Menschenrechte) et cetera – sofern tatsächlich autonom – oder psychische Faktoren, einschließlich des Begehrens selbst.

Begehrensökonomie ist das verständnissuchende Bindeglied zwischen den subjektiven, leib-seelischen Konfigurationen, die begehren, sie selbst zu sein, sich darin jedoch unweigerlich verfehlen müssen (Lustprinzip) und den Makroeinheiten, die in der Lage sind, Körper wie Seelen zu regieren (Todestriebrepräsentanzen). Der entscheidende Charakterzug der Begehrensökonomie ist, dass durch ihr Wirken erst, das auf der Ebene jedes Subjekts nur äußerst begrenzt erfahrbar ist, den Todestriebrepräsentanzen das jeweils konkret zur Entfaltung von deren Wirkung – dem Zusammenspiel als gesellschaftlicher Synthesis – Erforderliche zukommt. Nur die nietzscheanische Bejahung[x] auf kollektiver Ebene lässt zu, dass objektiv Lustentfaltung verhindernde Repressionsapparate auf der Ebene des Realitätsprinzips in gesellschaftliche Funktionszusammenhänge eingebunden werden, denen wiederum eine grundlegende Codierungsfunktion gegenüber dem verschoben Repräsentierten wesentlich ist.[xi]

Das Kapital[xii] ist in diesem Zusammenhang weniger die objektive Form des Wunsches, als ein symbolisches, auch symbolbildendes, Missverständnis, das Schuld (culpabilité) – Resultat der abgebogenen, aggressiven Triebkomponenten – in Schulden (dettes) umzuwandeln in der Lage ist. Dazwischen stehen immer noch und immer wieder Menschenwesen, die dieses unfreiwillige Spiel mitzuspielen bereit sind, auch weil ihnen mangels passender Ausdrucksmittel und -formen, die Formulierung von Alternativen kaum möglich ist.[xiii] Kapital ist daher nicht nur Folge des strukturalen Bruchs, als den es der lacansche Discours capitaliste auszuweisen versucht, sondern Fortführung der aggressionsbedingten Selbst-, wie Anderenberaubung, der wir bereits unvermeidbar folgen, wenn wir auch nur Worte wechseln.

Es geht sich im Folgenden darum, die Beziehungen einer doppelten Ökonomie darzustellen – der leib-seelischen Binnenökonomie des menschlichen Begehrens einerseits und der Makroökonomie im Sinne einer wirtschaftlichen Totalität, welche die verdinglicht-befriedigende Rückspiegelung und Erfahrbarkeit des Begehrens sowohl herstellt als auch organisiert, andererseits.

Anhand einer mit Anmerkungen versehenen Assoziationskette soll beispielhaft die Arbeit der Begehrensökonomie verdeutlicht werden.

 

I. The fight for Eros – Surplus Repression und die Weltmacht Amerika

Im Jahr 1966 stellte Herbert Marcuse seinem 1955 erschienen Werk Eros and Civilization: A philosophical inquiry into Freud[xiv] ein Vorwort voran. Er nannte es Political Preface, es endet mit dem Satz: „Today the fight for life, the fight for Eros, is the political fight.“[xv]

Marcuses Buch war eines der ersten international Aufsehen erregenden, das empirische gesellschaftliche Verhältnisse mit auf das Individuum bezogene Triebkonzeptionen der Psychoanalyse korrespondierte, um „freudschen Begriffen, die nicht entsprechend zwischen den biologischen und den soziologisch-historischen Triebschicksalen unterscheiden“ [xvi] ergänzende Begriffe und Konzeptionen zur Seite zu stellen. Diese verweisen vorrangig auf deren sozialen Körper[xvii].

Für Marcuses Verständnis der freudschen Kulturtheorie ist der Satz entscheidend:

Da die Kultur hauptsächlich das Werk des Eros ist, ist sie vor allem einmal ein Entzug von Libido: die Kultur muss einen großen Betrag der psychischen Energie, die sie selbst verbraucht, der Sexualität entziehen.[xviii]

Diese Position geht einher mit dem Versuch, in die psychoanalytische Kulturtheorie zwei Ergänzungen einzufügen: die Surplus Repression (zusätzliche Unterdrückung zur gesellschaftlich normierten, die Zivilisation bedingenden Triebunterdrückung) und das Performance Principle (Leistungsprinzip).

Surplus Repression meint die im Sozialen angesiedelten Unterdrückungsvorgänge, die sich zur eigentlichen Triebunterdrückung hinzugesellen. Das Performance Principle ist sozusagen die auf den einzelnen Menschen bezogene Ausdrucksform, die sich aus der Surplus-repression ergibt. Zugleich ist es – so Marcuse – die vorherrschende Form des Realitätsprinzips. Freud hatte das Realitätsprinzip in seinem kurzen Aufsatz Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens im Jahr 1910[xix] eingeführt und dem Lustprinzip gegenübergestellt. Das Lustprinzip ist Ausdruck des Versuchs des Menschen, den Forderungen der Realität durch lustvolles Wünschen gerecht zu werden. Es beherrscht die gesamte Phase, in welcher das kleine Menschenwesen mangels eigener Fähigkeiten physiologisch aufkommender Unlust nicht anders begegnen kann, als durch den Wunsch, jemand oder etwas in der Außenwelt möge diese beseitigen und einigen begleitenden motorischen Aktivitäten, welche die Außenwelt über den Handlungsbedarf in Kenntnis setzen. Dieses Ausdrucksmittel wandelt sich im Lauf der kindlichen Entwicklung zum Handeln, zur selbständigen Einflussnahme auf die Umwelt. Der Wunsch, Unlust zu beseitigen, wird über die Aufmerksamkeit, welche dem Reaktionsgeschehen in der Umgebung entgegengebracht wird, zu Denken und Bewusstsein. Der Status des lustvollen Wünschens wird als ursprünglich unbewusst angenommen. Durch die Zuordnung von Wortbedeutungen wandelt es sich qualitativ zu bewussten Vorstellungen. Insgesamt ist das Lustprinzip stark mit dem Status des Unbewussten verbunden, das Realitätsprinzip mit dem des Bewusstseins.[xx]

Surplus Repression als wird durch Institutionen erbracht und nötigt dem durch das Individuum im Laufe seiner Entwicklung zu leistenden Triebverzicht (Ödipuskomplex) weitere gesellschaftliche Anpassungen ab. Die Nähe zum marxschen Mehrwertbegriff (Surplus value) besteht zwar unverkennbar in der Bezeichnung des Phänomens, sie wird aber inhaltlich nicht weiter thematisiert.

Die verschiedenen Arten der Herrschaft (über die Menschen und über die Natur) resultieren in verschiedenen historischen Formen des Realitätsprinzips. (…) ob Marktwirtschaft oder Planwirtschaft überwiegt, privater oder kollektiver Besitz. Diese Unterschiede beeinflussen den Inhalt des Realitätsprinzips an sich, denn jede Form dieses Prinzips muss in einem System gesellschaftlicher Institutionen und Beziehungen, Gesetzen und Wertsetzungen verkörpert werden, die die notwendigen ‚Modifikationen‘ der Triebe vermitteln und erzwingen. Und mehr noch, während jede Form des Realitätsprinzips ein beträchtliches Maß an unterdrückender Triebkontrolle erfordert, führen die spezifischen historischen Institutionen des Realitätsprinzips und die spezifischen Interessen der Herrschaft zusätzliche Kontrollausübungen ein, die über jene hinausgehen, die für eine zivilisierte menschliche Gemeinschaft unerlässlich sind. Diese zusätzliche Lenkung und Machtausübung, die von den besonderen Institutionen der Herrschaft ausgehen, sind das, was wir als zusätzliche Unterdrückung [surplus repression] bezeichnen.[xxi]

Mittels der Begrifflichkeit des Kampfes hatte Marcuse fast dreißig Jahre vor dem Political Preface in einem komplexen Aufsatz Über den affirmativen Charakter der Kultur[xxii] den Sachverhalt beschrieben, dass die in der affirmativen Kultur der bürgerlichen Gesellschaft als Angepasstheit des Individuums sich niederschlagende Akzeptanz von Vergänglichkeit sich nur vergeblich gegen unerfüllte Sinnlichkeit auflehnen kann. Solange Affirmation herrscht, ist Befreiung der Sinnlichkeit zugleich ihre Entwertung. Ein Stufe weiter geführt bedeutet dies, dass Sinnlichkeit überhaupt nicht mit Kampf kompatibel ist. Hier wäre das Verhältnis von Sinnlichkeit und Eros über die philosophische und psychoanalytische Entwicklung nachzuzeichnen mit dem Resultat, dass in der sokratischen Position des Eros im Symposion [xxiii]das eigene Unzureichen des Gottes zentral wird insofern seine Forderung nach lustvoller Einigkeit der Menschen nur außerhalb seiner göttlichen Zuständigkeit in der Erfüllung von nie zu beseitigender Bedürftigkeit zu realisieren ist. Bezeichnenderweise bleibt Marcuses Essay Über den affirmativen Charakter der Kultur noch ohne jeden Bezug zum thematisch naheliegenden freudschen Text von 1930 Das Unbehagen in der Kultur[xxiv]. Die direkte Aufnahme psychoanalytischer Motive durch die Kritische Theorie erfolgt erst xxxx.

Fraglich ist, ob der intendierte philosophische Beitrag zu Freud und speziell zu dessen Kulturtheorie diesem im Einzelnen gemäß ist. An vielen Stellen tritt das Problem auf, dass die freudsche Terminologie in der englischen Übersetzung einer biologistischen Konzeption zuzuneigen scheint, der sie im Originaltext nicht verhaftet ist. Daher ist die Reklamation der sozialen Sphäre als Regulativ für Marcuse zwar relativ konsequent, Freud selbst hat jedoch an vielen Stellen, von denen die Marcuse sogar zwei zitiert, das Unterdrückungsverhältnis von Trieben zugunsten der Kultur mittels Sublimation unmissverständlich betont.[xxv]

Bedeutend in diesem Zusammenhang sind zwei Dinge: erstens die Tatsache, dass der englische Text Marcuses in der Lage war, ein weltweites Publikum anzusprechen, das den freudschen Gedanken nicht auf Grundlage der einzelnen, ins englische übersetzten Schriften zu folgen brauchte und zweitens der Kontrast, in dem die marcuseschen Übersetzungen und Ergänzungen sowie der gesamte konzeptionelle Aufriss zur intendierten Übersetzung der freudschen Texte ins Englische durch James Strachey und der Standard Edition stehen.

Von den unmittelbaren Wirkungen des freudschen Werks war Marcuse vor allem durch die furchtbaren Umstände des Zweiten Weltkriegs getrennt, beispielsweise aufgrund seiner Emigration in die Schweiz 1933 und ein Jahr später in die USA. Er war noch sehr nah an den Grundgedanken, so wie sie vor dem Erscheinen der Standard Edition von James Strachey, die 1956 startete, auch im Englischen zumindest teilweise noch virulent waren. Zum ‚seelenlosen‘ und funktionalistischen Zusammenhang der englischsprachigen Freudübersetzungen hat sich Annette Kuenkamp[xxvi] deutlich geäußert.

Strachey war in den frühen Zwanzigerjahren zu Freud in die Analyse gekommen und gewissermaßen von ihm bezüglich der englischen Übersetzungen autorisiert worden. Für Stracheys Geschichte und die Dominanz seiner systematischen Perspektive der englischen Freudübersetzungen ist seine Beziehung zur seinerzeit recht unkonventionellen Londoner Bloomsbury Group nicht ohne Bedeutung, so etwa die Beziehung zu Leonard und Virginia Woolf als Gründern der Hogarth Press, dem Verlag der Standard Edition und ebenso zum Ökonomen John Maynard Keynes, dessen intendierte politische Einflussnahme auf die makroökonomische Situation letztlich einigen Gedanken Marcuses bezüglich der Steuerbarkeit und Konsequenz im gesellschaftlichen Ganzen entgegen kämen:

Diese Veränderung im Wert und im Ausmaß der libidinösen Beziehungen [d.h. der Körper als einem Instrument der Lust] würde zu einer Auflösung der Institutionen führen, in denen die privaten zwischenmenschlichen Beziehungen organisiert waren, besonders der monogamen und patriarchalen Familie.[xxvii]

Ohne hier auf die einzelnen Thesen Marcuses einzugehen, soll festgehalten werden, dass seine Kritik an der – vermeintlich – in sozio-historischer Hinsicht defizitären Position Freuds zu einer Deutung von Kultur führt, die zwei große Konsequenzen verlangt. Einerseits intendiert sie vor dem Hintergrund vorhandenen Überflusses (superfluity) die Umgestaltung gesellschaftlicher Institutionen[xxviii] mit dem Ziel, bei geringstmöglichem Aufwand „allen Mitgliedern der Gesellschaft alles Notwendige zugänglich zu machen“[xxix]. Andererseits bedarf sie der fortwährenden Befreiung (liberation) und der Schaffung neuer Bedürfnisse (the emergence of new, qualitatively different needs and faculties), um der Unterwerfung unter das Gesetz der Anderen (submission to the rule of law of the others) zu entgehen.[xxx]

Unter positivem Vorzeichen versteht Marcuse die repressionslose oder nicht-repressive Sublimierung[xxxi] auf erotischer Ebene als Element eines möglichen Jenseits des Realitätsprinzips. In einem Nebensatz tangiert Marcuse das Phänomen der „zusammengehörigen Individuen“[xxxii], welche auf dem Weg der Selbst-Sublimierung in der Kultivierung der Umwelt aneinander gebunden seien. Als „soziales Phänomen“ in relativ kleinem Maßstab könne die Libido also kulturbildend wirken.

Tragischerweise können die neuen Bedürfnisse „which transcend the market economy and may even be incompatible with it“[xxxiii] ebenso als therapiesuchende Dysfunktionen Einzelner verstanden werden, welche sich aus den nicht abgewehrten Unterwerfungsversuchen Anderer ergeben, wie sie auch als auf höherer Ebene eben doch wieder in sozusagen ‚Fundamentalökonomien‘ eingebundene Pseudo-Absetzbewegungen vom kulturellen Mainstream fungieren können, beispielsweise in der Form Psychopharmaka-induzierter Bewusstseinserweiterung[xxxiv] oder terrorostischer Makropathologien.

Nur nebenbei sei angemerkt: Die im Umgang mit individuellen Geschlechterrollen konziliante Position der Bloomsbury Group dreht sich seltsamerweise bezüglich der lebensnahen Begriffsprägungen Freuds bei Strachey in eine zumindest potenziell paranoide Wissenschaftsaffinität – beispielsweise in der Auflösung des zentralen Begriffs ‚Seele‘ in Satzstrukturen oder der Wiedergabe als ‚psychic device‘[xxxv].

Marcuse und Freud: Differenzen und Ableitungen

Mit Marcuses Eros and Civilization stellte sich erstmals ein Angebot weltweiter Präsenz psychoanalytischer Kulturtheorie ein[xxxvi] – ohne zugleich ein konkretes Verständnis zu garantieren. Dass sie schrittweise in Verbindung mit einem Bündel möglicher politischer Konsequenzen auftrat, hat ihm den Anschluss an gesellschaftkritische Aspekte und Strömungen des Marxismus erleichtert. Allerdings erzeugten diese Positionen zugleich den Konflikt mit dem Kulturpessimismus seines maßgeblichen Urhebers, Freud. Ebenso haben sie massive Gegenreaktionen hervorgerufen, die Marcuse teilweise bereits im Epilog zum neo-freudianischen Revisionismus andeutete.[xxxvii]

Wenn im Titel dieses Essays vom Unbewussten die Rede ist, so stellt das bereits einen gewissen Rückfall hinter die freudschen Positionen seit Das Ich und das Es[xxxviii] dar.

Wir müssen für diesen Gegensatz [des Bewussten und des Unbewussten] aus unserer Einsicht in die strukturellen Verhältnisse des Seelenlebens einen anderen einsetzen: den zwischen dem zusammenhängenden Ich und dem von ihm abgespaltenen Verdrängten.[xxxix]

Hier werden die Begrifflichkeiten des Es und des Über-Ich (Ichideal) eingeführt, ebenso die des Vorbewussten, das sich durch die Verbindung unbewussten Materials mit Wortvorstellungen vom Unbewussten unterscheidet. Eine Reihe von Thesen wird aufgestellt, die für eine psychoanalytische Kultur- und Gesellschaftstheorie unerlässlich sind:

  1. Das Wesen des Psychischen kann nicht in das Bewusstsein verlegt werden, sondern das Bewusstsein ist eine Qualität des Psychischen (283)
  2.  Was als Lust und Unlust bewusst wird, ist ein quantitativ-qualitativ Anderes im seelischen Ablauf; es muss zur Wahrnehmung geführt werden und kann nicht spontan bewusst werden (291)
  3. Das Ich repräsentiert Besonnenheit und Vernunft, das Es enthält die Leidenschaften (293)
  4. Der zwangsartige Charakter des Über-Ich äußerst sich als Kategorischer Imperativ (302)
  5. Das Ichideal (Über-Ich) ist der Erbe des Ödipuskomplexes und Ausdruck mächtiger Regungen und wichtiger Libidoschicksale des Es (303)
  6. Soziale Gefühle ruhen auf Identifizierungen mit anderen aufgrund gleicher Ichideale (304)
  7. Zwei Triebarten sind zu unterscheiden: der Sexualtrieb oder Eros und der Todestrieb, der beispielsweise im Sadismus repräsentiert ist und die Überführung des organischen Lebens in den leblosen Zustand zum Ziel hat[xl] (307)
  8. Zwischen Ich und Es ist eine verschiebbare, indifferente Energie tätig, die dem narzisstischen Libidovorrat entstammt und desexualisierter Eros ist (311)
  9. Denkarbeit wird durch Sublimierung erotischer Triebkraft bestritten (312)
  10. Das Ich erledigt erste und spätere Objektbesetzungen des Es, indem es deren Libido ins Ich aufnimmt und über Identifizierungen an Ichveränderungen bindet (312)
  11. Das bewusste Schuldgefühl, das Gewissen, beruht auf der Spannung zwischen dem Ich und dem Ichideal, ist Ausdruck einer Verurteilung des Ichs durch das Ideal (317)
  12. Das Ich befürchtet von der Libido der Außenwelt wie von der des Es überwältigt und vernichtet zu werden, was analytisch nicht zu fassen ist (323)
  13. Tod hat analytisch im Unbewussten keine Entsprechung[xli], daher ist Todesangst schwer zu fassen; sie ist wie die Gewissensangst Ausdruck der Kastrationsangst (324?)
  14. Das Es kann nicht sagen, was es will; es hat keinen einheitlichen Willen zustande gebracht. Eros und Todestrieb kämpfen in ihm (325).

Für Marcuses Konzeption der Notwendigkeit des Kampfes für den Eros heißt letzteres, dass im Politischen Verhältnisse analog zum Geschehen im Es herrschten – ohne einheitlichen Willen. Allerdings zeigen zahlreiche positive Bestimmungen, dass sie sich um Annahme im gesellschaftlichen Konsens bemühen: Befreiung der Triebentwicklung aus der Überwachung (S. 132), Protest gegen die Organisation des Lebens durch die Logik der Herrschaft (S. 143), weltweit sollen Alle ein menschenwürdiges Dasein führen können (S. 150), schmerzlose Bedürfnisbefriedigung (S. 153) und Triebbefreiung (S. 154), grundlegende Neuorganisation von Arbeit[xlii]. Fragen zum Träger der zur Erreichung der Ziele erforderlichen Prozesse stellt Marcuse nicht. Er hält die Möglichkeiten der Erreichung für gegeben und setzt geradezu fraglos die Umsetzung mit historisch-dialektischer Notwendigkeit voraus.

In der Ausarbeitung des späteren Political Preface offenbart sich gewissermaßen die spürbare Leerstelle, der Kampf wird die Realisierungsgröße der Wahl. Doch genauso, wie es die (anonymen) gesellschaftlichen Autoritäten zu sein scheinen, die einen vermeintlich allgegenwärtigen Überfluss von Gütern bereitstellen – über die Probleme der Konstitution einer verbindlichen Verteilungsgerechtigkeit schweigt Marcuse hier bezeichnenderweise –, ist es auch das ‚System‘, welches für Beschäftigung ohne Arbeit zu sorgen hat.[xliii] Doch zugleich muss, damit die angezielte Befreiung nicht wieder in Unterwerfung unter fremdbestimmte Gesetze mündet, auch die Entwicklung neuer, qualitativ von den vorangehenden unterschiedener Bedürfnisse betrieben werden. Allerdings kommt auch hier dem ‚System‘ die treibende Kraft zu:

It has to develop needs which transcend the market economy and may even be incompatible with it.[xliv]

Bevor detaillierter zu gesellschaftlichen Phänomenen – Marcuses market economy –, die jeweils in tieferen Beziehungen zur leib-seelischen Binnenökonomie stehen, übergegangen wird, ist ein Bezug auf Freuds Arbeit Jenseits des Lustprinzips (1920) unverzichtbar. Dem zentralen Begriff Lustprinzip wird hier, ebenso wie in früheren Arbeiten, immer noch das Realitätsprinzip[xlv] gegenübergestellt, was den engsten thematischen Bezug zu Marcuses Arbeit bildet. Allerdings erweitert Freud sein Konzept zugleich durch die Dimension der Todestriebe.

Er schließt auf ihre Existenz etwa durch die beständige, zwanghafte Wiederholung traumatischer Erlebnisse in den Träumen von Unfallneurotikern, die durch den bloßen Lustgewinn, der aus der Wandlung von passivem Erleiden zu aktivem Reproduzieren nicht ausreichend erklärbar ist. Der Wunscherfüllung, sowohl in den neurotischen Wiederholungsträumen wie in Herrschaft symbolisierenden Kinderträumen muss „eine Vorzeit“ vorangehen. Er schließt, dass ein Trieb, hier die triebhafte Wiederholung, der Drang sei, zu einem früheren Zustande zurückzukehren. Der Vorzustand des Organischen aber sei das Anorganische:

Ein Trieb wäre also ein dem belebten Organischen innewohnender Drang zur Wiederherstellung eines früheren Zustandes, welchen dies Belebte unter dem Einflusse äußerer Störungskräfte aufgeben musste, eine Art von organischer Elastizität, oder wenn man will, die Äußerung der Trägheit im organischen Leben.[xlvi]

Die bereits erwähnten „immer komplizierteren Umwege bis zur Erreichung des Todesziels“ finden im politischen Erfüllungsarkanum Marcuses bezüglich der hieraus ableitbaren grundlegenden ‚Triebstruktur‘ eine spezifische Berücksichtigung: Die Entwicklung von Technik und technologischer Rationalität absorbieren modifizierte Destruktionstriebe[xlvii].

Diesem synchronen Statement lag sicherlich ein entwickelteres Bild der gesellschaftlichen Industrieproduktion Nordamerikas zugrunde, welche sich graduell von der empirischen Grundlage Freuds, die sich ihrerseits im Verlauf der psychoanalytischen Kulturtheorie stark verändert hatte, unterschied, doch waren die Unterschiede wenig qualitativer Natur. Ein qualitativer Sprung dahingehend, zu erkennen, dass forcierte technische Entwicklungen nur über den Markt und die darin vollzogene Rückgewinnung von Kapital mittels dauerhafter, profitabler Erlöse aus Verkäufen – einem Massenmarkt für technische Güter – möglich ist, bleibt aus. Dass in solchem Fall nicht nur eine auf eine große Anzahl von Menschen verteilte Kaufkraft, sondern auch ein Begehren nach Besitz und Gebrauch technischer Güter besteht, wird nicht thematisiert. Sie hätte die erotische Besetzung sowohl der Warenwelt sichtbar gemacht, als auch die faktischen new, qualitatively different needs and faculties.[xlviii]

„Diese Umwege zum Tode, von den konservativen Trieben getreulich festgehalten, böten uns heute das Bild der Lebenserscheinungen“[xlix] – stellt man die freudschen ‚Lebenserscheinungen‘ in einen auch nur oberflächlichen Bezug zu Macuses Civilisation, und weiter zu Kultur und Gesellschaft, so wird sichtbar, dass ein wesentliches – negativ gerichtetes – Moment unterbelichtet bleibt. Das hat mit dem freudschen Skeptizismus einem „Kampf um das Glück “ gegenüber zu tun:

Das Programm, welches uns das Lustprinzip aufdrängt, glücklich zu werden, ist nicht zu erfüllen, doch darf man – nein, kann man – die Bemühungen, es irgendwie der Erfüllung näherzubringen, nicht aufgeben.[l]

Zum hedonistischen Ideal des Glücks hatte Marcuse vor der Einbeziehung psychoanalytischer Begrifflichkeiten Stellung genommen[li]. Auch hier war er zu dem Schluss gelangt, dass es einer grundlegenden Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse – und damit auch einem neuen Verständnis von Lust und Glück – bedürfe, um das im Begriff Angestrebte zu erreichen. Der idealistischen Aufhebung von Glück im Ideal der Kunst bescheinigt er Unzulänglichkeit dem ursprünglich Intendierten gegenüber: dass Glück auch gesellschaftlich wirklich zu sein habe. Ähnlich scheiterten bereits die antiken Konzeptionen des Hedonismus – trotz ihres materialistischen Protests, der sie unbrauchbar zur Ideologie mache – am Unvermögen, die „wesentlichen Beziehungen der Individuen“ nicht auseinanderfallen zu lassen (kyrenaische Richtung) und der falschen Versöhnung des „besonderen Glücks mit dem allgemeinen Unglück“, welches die Unterwerfung der Lust unter eine sie leitende utilitaristische Vernunft impliziert – in der Ordnung der jeweils zu wählenden oder zu meidenden Unlust (epikuräische Richtung).

Für den Marcuse von Eros and Civilistaion liegt das „Glück in der Wirklichkeit der Freiheit und der Befriedigung“, statt im „bloßen Gefühl der Befriedigung“.[lii]

Wie die Kritische Theorie der Gesellschaft in der marcuseschen Auslegung insgesamt den Weg von einem geradezu unmittelbar vor Augen befindlichen besseren, gerechteren, humanerem und lustvollerem Vorstellbaren zu dessen Verwirklichung weitgehend unthematisiert lässt, so bringt auch die Einbeziehung psychoanalytischer Konzeptionen wenig mehr als die Reklamation möglicher Ansprüche „in Beziehung zum historisch möglichen Ausmaß der Freiheit“[liii]. Der zwischen dem Anspruch und seiner Erfüllung liegende, erforderliche Beitrag zur Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse bleibt eigentümlich vage. Ob hier bereits zu viel – weil unreflektiert – oder immer noch zu wenig Utopie präsent ist, wie in den Überlegungen zu Philosophie und kritische Theorie[liv] als Mitursache für das Ausbleiben von gesellschaftlichen Veränderungen bereits vor der Aufnahme des psychoanalytischen Vokabulars festgestellt wird, hat wenig Relevanz. Allein aus der Gegenüberstellung von möglichen Inhalten der philosophischen Vorwegnahme dessen, was Phantasie zu entwickeln vermöge[lv], lassen sich – das ist ein Postulat der Kritischen Theorie – die entscheidenden Elemente bestimmen, „wodurch die Gesellschaft erst vernünftig wird: die Unterordnung der Wirtschaft unter die Bedürfnisse der Individuen“[lvi]. Auf diesen Zusammenhang wird genauer zurückzukommen sein.

Unvorstellbar allerdings muss auf dem Boden der freudschen Grundlagen bleiben, dass „in einer erfüllten Gegenwart“ der Tod nicht mehr Triebziel sei, sondern die unterdrückte Energie der Menschen gegen diese Notwendigkeit „den entschiedensten Kampf aufnehmen wird“ [lvii], ohne dass dieser rückhaltlos vom zu Beseitigenden bereits durchdrungen wäre – wenn nicht die freudsche Todestriebkonzeption hinfällig werden soll. Die Erreichung eines jeweils weniger als aktuell präsenten unlustvollen Zustands hat nach Freud als Vorbild einen früheren Zustand, letztlich die Rückkehr in das Anorganische. Die Beseitigung der Unlust ruft Lust hervor, das heißt, sie ist an Handeln entsprechend dem Realitätsprinzip gebunden.

Um hier tiefere Zusammenhänge zu entwickeln, ist der Rückgriff auf das Verständnis des Unbewussten in seiner frühen Form – dem ersten Modell – und verschiedener Fortschreibungen erforderlich.[lviii]

Das Imaginäre im Schreiben

Statt hier in die Entwicklung des freudschen Denkens einzutreten, sei kurz eine interessante Komponente in Herbert Marcuses Arbeit erwähnt. 

Im englischen Original hatte er dem Buch die Widmung vorangestellt: „Written in Memory of Sophie Marcuse, 1901 – 1951“. Wenn diese Aussage stimmt, verweist der geschilderte inhaltliche Zusammenhang, nämlich die intendierte philosophische Einführung in das Werk Freuds, auf die Verbindung eines abschließend-abgeschlossenen Schreibvorgangs zu einer ihn begleitenden Erinnerung, einem Gedächtnis. Im Werk selbst finden sich dezidierte inhaltliche Verweise auf seine wenige Jahre zuvor verstorbene Ehefrau nicht.

Erinnerung und Erinnertes stehen somit außerhalb des manifest philosophisch-psychoanalytisch dokumentierten Bezugsfelds. Das reklamierte Weibliche ist hingeschieden, sein Ort der Repräsentation ist die Memoria. Schwer vorstellbar, dass der Autor ohne tiefere Absicht auf solchen Zusammenhang an zentraler Stelle seines Werks verwies. Memory, Erinnerung, Eingedenken ist eine begleitende Substruktur, die sich zum manifesten Inhalt wie eine latente, sich ihrer selbst nicht bewusste externe Komponente verhält. Sie ist mit einem anderen, vertrauten Menschen verbunden, der nicht mehr ist. Man darf vermuten, dass in die Situation des Schreibens eine Eros-Thanatos-Komponente einfließt, die viel zu ungreifbar ist, um selbst zum Thema werden zu können.

Wie ein Political Preface ein Jahrzehnt später und der dort thematisch werdende politische Kampf sich zur memorialen Unbewusstheits-Substanz verhalten, muss Spekulation bleiben. Ein eigentümliches Spannungsverhältnis geht jedoch aus den Klammern, in die der eigentliche Text gefasst ist, deutlich hervor. Dies macht das Werk zugleich zum Element eines überaus privaten Bezugsfeldes, das intentional diese Spannung mittels seiner Botschaften auf den externen Kontext überträgt. Zwischen den beiden Hälften eines imaginären Vorhangs agieren die ausgewählten, konzeptionellen Gedanken Freuds und die Idee der philosophischen Einführung als manifeste Motivation. Mehr Relativierung und Zurücknahme scheinen in einem nicht-fiktiven Zusammenhang kaum möglich.

 

II. Globalisierung –
Big Business and a Great Show

An dem nicht unbedingt scharfen Begriff Globalization, der im Englischen bereits mehr einen Status als eine immer noch anhaltende Bewegung ausdrückt, ist unmittelbar ablesbar, welchen Anschluss eine externe Makroökonomie zu ihrer grundlegend bejahenden, wenn auch an der Oberfläche partiell abgelehnten, Widerspiegelung in den Begehrenskammern der Subjekte besitzt.

Der begriffliche Kern von Globalization meint insbesondere die makroökonomische Zugänglichkeit der wirtschaftlichen Regionen der Welt und ihrer Bewohnerinnen und Bewohner, sowohl als Produzenten wie auch als Konsumenten. Das umfasst die Verfügbarkeit des gesamten Instrumentariums kapitalistischen Prozedierens: Investitionskapital, rechtlich beherrschbare Rahmenbedingungen, einsetzbare Zahlungsmittel, einschließlich der Konvertierbarkeit von Währungen, Massenproduktionstechnologien, Arbeitskräfte und eine über die politischen Systeme hinweg wirksame Konsumtionswilligkeit von Menschen.

Kommunikationstechnologien in Form weltweit verbundener Computernetze erlauben und unterstützen einerseits die Steuerung komplexester technischer Zusammenhänge, beispielsweise des satellitengestützten Flugverkehrs oder der logistischen Verbünde zur Nahrungsmittelproduktion oder in der Energieversorgung. Sie gestatten andererseits die kohärente, medienbasierte Promotion homogener Produktangebote, ob Babynahrung, Smartphones oder Kreditkarten. Inhärent ist diesen, auf umfassende Konsumtion zielenden, überwiegend privatwirtschaftlich organisierten Abläufen ein Begehren. Auf Seiten der Unternehmen der Wunsch nach monetärem Gewinn, auf dem der Konsumenten nach Genießen.

Der diese Prozesse fördernde und wesentliche Anschlüsse herstellende öffentliche, politische Sektor bleibt hinter den gleißenden Waren und den unermüdlich arbeitenden Produktions- und Distributionsmaschinen eigentümlich unsichtbar. Er löst sich in staatenübergreifende Funktionsgarantien und administrative Beglaubigungen, beispielsweise über die Zentralbanken auf. Ehemals, in der Phase nach dem Zweiten Weltkrieg für wichtig gehaltene zwischenstaatliche Institutionen, etwa die Vereinten Nationen, verlieren vor globalem Hintergrund ihre Koordinationsfunktion werden zum Spielball situativer, machtpolitischer Allianzen. 

Mit Lacan auf dem Mond

Selbstverständlich funktioniert dieses Wunscharrangement von Globalisierung, wenn überhaupt, dann im Konkreten allerdings wiederum ganz anders. Doch charakterisiert es final nichts anderes als das bereits 1972 von Lacan so von ihm, als vor der Haustür der Faculté de droit im 5. Arrondissement von Paris identifizierte, im Schaufenster ausliegende Begehren. „Et pour les menus objets petit a que vous allez rencontrer en sortant, là sur le pavé à tous les coins de rue, derrière toutes les vitrines, dans ce foisonnement de ces objets faits pour causer votre désir.“[lix]. Passend führte er es medial technologisiert weiter bis zur Stimme aus dem Funkgerät, welches die Astronauten auf dem Mond mit der Erdstation und den angeschlossenen Fernsehsendern in Verbindung stehen ließ, als 1969 Erdbewohner erstmalig den Fuß auf unseren Mond setzten. Was diesem interstellar-technologischen Imperialismus auf der Ebene des historisch-kriegswaffengestützten Menschenraubs voranging, blieb Teil des latent verdrängt bleibenden kollektiven Unbewussten. Schließlich war Muhammad Ali bereits fünf Jahre zuvor als schillerndes Symbol kaum beherrschbarer schwarzer Aggression zum großverdienenden Medienstar avanciert.[lx]

Der heroische Boxkampf wie die scheinbar Menschheitsträume erfüllende Raumfahrt generierten zuvor nicht gekannte Intensitäten medialer Präsenz in den damals durch Printmedien und elektronische Übertragungseinrichtungen erreichbaren Ländern. Daneben begründeten die finanziellen Dimensionen enorme Machtpositionen sowohl hinsichtlich der Investitionen als auch der Rückflüsse. Die Symbolik der Ereignisse zu entschlüsseln, würde verlangen, sie vor dem Hintergrund der Vorläufer globaler Großereignisse zu lesen, den beiden Weltkriegen, der indischen und den afrikanischen Befreiungsbewegungen und die Differenzen beispielsweise mit Blick auf die diffus-indifferenten Formationen von Gegnerschaft zu bestimmen. Krieg wie Mediengroßereignis gründen auf intensiver Partizipation großer Teile der Bevölkerung, ohne deren intensive Aufnahme in einen mentalen Bedeutungs- und Steuerungsraum solche Ereignisse nicht verwirklichbar sind.

Begehrensökonomisch ist weniger wichtig, wie die Mobilisierung von Massen in diesen Beispielen technisch und in einzelnen Schritten erfolgt. Dies wären Rekonstruktionen auf der Basis einer Rückschau. Auch wenn in anderen Zusammenhängen sozusagen Baupläne ermittelbar wären, etwa in Form von Strategien, die einem intendierten Popularitätsaufbau zugrunde liegen[lxi], so wäre die Zugänglichkeit dennoch eine nachträgliche. Für unser Projekt bleibt die Intrinsik, die Tatsache, dass es etwas geben muss, was sowohl größere Massen von Menschen über längere Zeiträume mobilisiert als sie auch über den Weg der Resultate ihres Tuns zum Fortfahren motiviert von primärem Interesse. Dass es zunächst als unspürbare Sinnlichkeit ausgewiesen wird, verdankt sich dem Arbeitscharakter.

Ökonomie des Virtuellen, imaginärer Positivismus, Affirmation

Dieser kurze Ausschnitt will nur andeuten, wie untrennbar das konsumatorische Korrelat des individuellen Begehrens, das Objekt a, mit der faktischen, auf bereitwilliger Hingabe von Arbeitskraft auf allen gesellschaftlichen Ebenen – vom NASA-Ingenieur bis zum Kioskverkäufer in Daressalam – verbunden ist. Eingeschlossen ist unvermeidbar die Konsumtionsarbeit der nur vermeintlichen Zuschauer, schließlich waren sie es, deren Begehren das Schauspiel als solches inszenierte. Wenn wir heute mit den selbst-induzierten Content-Maschinen der Telekommunikation die Geschehnisse wieder stärker auf die Erde zurückholen – die Facebook-Consumer generieren durch ihre Praxis gigantische Börsenwerte von zeitweise über 600 Milliarden US-Dollar[lxii] – so nur, um den tatsächlich die Grenzen der großen Wirtschaftssysteme überschreitenden Waren- und Gebrauchsflüsse den Stempel human-induzierten, dinglichen Ökonomie-Begehrens aufdrücken zu können.

Und dass tatsächlich telekommunikativ vernetzte Fischer oder Straßenhändler mikropolitisch temporär zum eigenen Wohlstand wie zu dem ihrer Kunden beitragen können[lxiii], ist Faktum – ein schnell flüchtiges allerdings. Ebenso sind die Beiträge von per Kabelfernsehen verbreiteten emanzipierten Rollenbildern von Frauen auf die tatsächliche weniger restriktive Lage in indischen Dörfern zwar messbar und dokumentiert[lxiv], doch sind es eben die zwischengeschalteten Institutionen der TV- und Kabelnetzwerke einschließlich solcher Produktionsapparate wie der Film- und Musikindustrie, die solche Resultate generieren. Was sie auf der anderen Seite, dem Zuspruch durch technische, kreative und administrative Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer systematisch bedürfen und erhalten, entzieht sich wiederum großenteils Erfahrung, soweit sie über Empirismus und positivistische Perspektiven hinausgeht.

Die Tatsache, dass für derartige Projekte sowohl Investitionskapital benötigt wird, als auch damit verbundene Erwartungen an steuerbare Gewinnrückflüsse intrinsische Forderungen darstellen, sind zwar allgemeine Feststellungen, sie lassen sich aber als Signifikanten, die in irgendeiner Form konkret im Psychischen der Beteiligten repräsentiert sind, kaum konkret darstellen. Auf der einen Seiten haben wir die Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, unmittelbar verbunden mit den Funktionseinheiten der Unternehmen, auf der anderen die vermeintliche Unmittelbarkeit konsumtiver Hinnahme. Nur, dass sich die Rollen mit wachsender Freizeit (Marcuse) beständig verschieben und – wie Horkheimer und Adorno bereits Mitte der vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts feststellten –, im Sinne einer Kulturindustrie jede Position jenseits von Affirmation hinfällig werden lassen. Gleichwohl ist im potenziell gesellschaftskritischen Konzept der Dialektik der Aufklärung[lxv] der Zugang zu einem Jenseits des vermeintlich autonomen Prozesses nicht gegeben. Dieses Jenseits wäre aber genau die Position, die ausweist, dass es den menschlichen Subjekten grundlegend unmöglich ist, den dinglichen Begehrenskontext zu verlassen – von forcierten asketischen Anstrengungen abgesehen. Dass auf der anderen Seite mit einem ausreichenden Horizont ausgestattete individuell eingebrachte Vernunft die Kontrolle übernähme, ist sowohl hinsichtlich der nötigen, umfangreichen Perspektive unwahrscheinlich als auch angesichts der Wirkmechanismen des totalisierenden Ganzen – der gebildeten und sich wandelnden ‚Strukturen‘ – geradezu unmöglich. Gleichwohl muss diese Dimension für den weiteren Aufschluss der Begehrensökonomie reklamiert werden.

Spezifisch auf Globalisierung bezogen hieße das, beispielsweise die Rolle der Bekleidungsindustrie als nicht mit Hilfe der Beschäftigten statuarisch Warenfetische produzierende zu einem schuldig-unschuldigen strukturalen Ende kommen zu lassen, sondern die das Spiel erst auf Dauer in Gang setzende, zwischengeschaltete Begierde der Käuferinnen und Käufer in ihrer gleichwohl dominanten Unzugänglichkeit in ein Gesamtszenario, das die Szene repräsentativ zugänglich machen kann, eingehen zu lassen, als auch deren Flüchtigkeit in ein Bild des Makrounbewussten einzubinden – von aller dominanten Sinnlichkeit der Erfahrung letztlich abgesehen. Was begehren wir, wenn Hemden oder Blusen aus bangladeschischer Produktion auf unserer Einkaufsliste, ob real oder imaginär, stehen? Wobei die Konkretisierung des Bildes eingestürzter Fabrikgebäude, in denen unterdrückte Arbeiter und Arbeiterinnen noch in letzter Lebensminute schützend gegenseitig verbunden zu sein scheinen, eine immer aufs Neue nachträglich medial erzeugte Größe darstellen.[lxvi]

Es geht sich um vorhandenes, aber nicht repräsentierbares, unmittelbar der Aufrechterhaltung des menschlichen Lebens und Zusammenlebens dienendes ‚Geschehen‘, in Bewegung befindliche Réalité humaine – so schizophren autonom sie erscheint, so unmöglich an konkrete subjektive Handlungen sie zu binden ist. Kurant sich als Äquivalent zu Währung und Zahlung darstellend, symbolhaft diese als nach außen gespiegelte Darstellungsformen vergeblich greifbar zu machen, bleibt es bei ausschließlich über das Funktionieren zugängliche Partizipatorik.

Und damit zumindest auch bei rudimentärer Spürbarkeit.


III. Fallbeispiel – Emigration, Depression und das verlorene Objekt

Die Notwendigkeit, zum Verständnis der Vermittlung von Unbewusstem und Gesellschaftlichem auf breit orientierte, begehrensökonomische Perspektiven zurückzugreifen, lässt sich an einem individuellen Schicksal, das sich gegen eine drohende Psychose allein nicht zu wehren wusste, verdeutlichen. Sprache nimmt in diesem Umfeld sowohl die Rolle der Vermittlung ein, als sie auch der Erschließung eines über das individuelle Schicksal hinausgehenden Zusammenhangs dient. In diesem größeren Zusammenhang allerdings verliert sie sich auch in gewissem Grade wieder.

Die in einer ländlichen Region Zentral-Kenyas als erstes Kind eines muslimischen Ehepaares geborene Tochter war zum Zeitpunkt der ärztlichen Diagnose, Depression lautend, zweiundvierzig Jahre alt. Mit vierunddreißig Jahren war sie einem deutschen Mann, den sie kurz zuvor in Kenya geheiratet hatte, nach Deutschland gefolgt. Die Eltern hatten dagegen große Bedenken, da ihre Tochter in Deutschland ohne ihren Schutz wäre. Der Vater hatte gehört, dass kenyanische Frauen in Europa oft schlecht behandelt würden.

Majilia, so der Name der Frau, hatte in ihrem Heimatort als Hotelangestellte gearbeitet. Sie war mit ihrem Leben zufrieden. Über viele Jahre war sie der Liebling ihres Vaters, selbst nachdem zahlreiche Geschwister folgten. Ihre Mutter war, als sie Majilia zur Welt brachte, achtzehn Jahre alt[lxvii], der Vater jedoch bereits dreiunddreißig. Majilia hatte in Kenya drei Kinder zur Welt gebracht, die zum Zeitpunkt, als sie das Land verließ, zehn Jahre, acht Jahre und zwei Monate alt waren.

Ihr späterer, deutscher Mann war ihr zum ersten Mal als Tourist begegnet. Sie löste für ihn freundlich einige heikle Probleme, die aus dessen unüberlegtem Verhalten in dem fremden Land erwachsen waren. Er war dort mit einem Freund unterwegs, beide hatten unter anderem Sprachprobleme, auch in Englisch, aus denen ihnen Majilia heraushalf. Wegen ihr kam der spätere Gatte zurück nach Kenya und hielt um ihre Hand an. Majilia war zu dem Zeitpunkt von einem anderen Mann schwanger, doch nachdem sie ihre jüngste Tochter zur Welt gebracht hatte, folgte sie ihrem Gatten nach Deutschland. Die Kinder blieben in der Obhut der großen Elternfamilie.

In Deutschland stellte sie fest, dass der Ehemann in einem Zimmer in der Wohnung seiner Eltern lebte. Er war vom eigenen Vater bereits als Kind unterdrückt worden und arbeitete nach absolvierter Volksschule in jungen Jahren als Bergmann im Tagebau in der Region Aachen. Um eine eigene Familie oder Partnerschaft hatte er sich seither nie bemüht. Das verdiente Geld diente ausgiebigen Vergnügungen am Wochenende und periodischen Urlaubsreisen.

Die kenyanische Ehefrau fand schnell Zugang zu den Eltern des Mannes, doch war sie über die konkreten Lebensumstände sehr enttäuscht. Aus visatechnischen Gründen war es erst knapp zwei Jahre nach ihrem Eintreffen in Deutschland möglich, die beiden Töchter nach Deutschland zu holen. Sie selbst war zu dem Zeitpunkt von ihrem Gatten schwanger und brachte ein gutes halben Jahr später eine Tochter zur Welt. Die Familie lebte, seitdem die Töchter aus Kenya hier waren, in einer eigenen Wohnung. Der Ehemann kümmerte sich zunächst intensiv um seine Familie. Die älteste Tochter war zehn Jahre alt, als sie erstmals in eine deutsche Schule ging, auf Anraten des Stiefvaters in eine Hauptschule, die Schulform, die auch er besucht hatte. Das Mädchen lernte sowohl die deutsche Sprache als auch den Unterrichtsstoff problemlos und engagiert. Sie fühlte sich sehr wohl.

Innerhalb der Beziehung des Ehepaares kam es nach wenigen Jahren zu größeren Auseinandersetzungen. Der Ehemann begann zu trinken und sich gewalttätig gegen seine Familie zu benehmen. Die Ehefrau erbat Hilfe durch die zuständigen Behörden und zog xxx mit ihren drei Töchtern in eine eigene Wohnung. Sie verdiente zusätzliches Geld durch einfache Arbeiten, da die finanziellen Mittel sich auf dem minimalen Niveau sozialer Regelsätze bewegten. Mutter und drei Töchter kamen mit dem eigenen Haushalt und dem von äußeren Störungen freien Zusammenleben allerdings gut zurecht. Sie sprachen untereinander Deutsch, nur die Mutter mit einem Akzent und einigen sympathischen Eigenheiten in der Satzbildung. Nach xxx Monaten / Jahren bat der Gatte, das vormalige Familienleben fortzusetzen. Majilia ließ sich aus verschiedenen Gründen auf diesen Wunsch ein, die Familie zog erneut in eine gemeinsame Wohnung. Doch der neue Anlauf scheiterte bereits nach kurzer Zeit. Der Gatte trank wieder, wurde erneut gewalttätig, rauchte im Beisein der Kinder, übte auf die älteste, damals sechzehnjährige Tochter Druck aus, unter anderem wegen Nachhilfegeldes, das sie benötigte, um deutschsprachige Rechenaufgaben in der Berufsschule lösen zu können, doch den Unterricht stressbedingt wiederholt nicht wahrnahm. Eine Lehrerin hatte ihr den Rat gegeben, sie solle wegen ihrer Aufgeschlossenheit eine kaufmännische Ausbildung beginnen, allerdings verkannt, dass das Mädchen eher in Englisch als in Deutsch rechnete und daher bei der Lösung der Aufgaben zu unorthodox vorging. Diese älteste Tochter weigerte sich nach intensiven Droh- und Schimpfattacken, in die elterliche Wohnung zurückzukehren. Eine schlimme Drohung des Stiefvaters betraf die Zurücksendung des inzwischen assimilierten Mädchens nach Kenya. Sie lebte fast versteckt für mehrere Monate in der Familie einer Freundin. Sie erhielt kaum Taschengeld und kam wegen eines kleinen Ladendiebstahls, den die Freundinnen gemeinsam verübten, mit dem Gesetz in Konflikt und musste sich behördlichem Druck stellen.

Da das häusliche Zusammenleben mit dem Gatten zerrüttet und der Zugang zur ältesten Tochter dadurch zusätzlich verbaut war, entschloss sich Majilia, mit Ihren beiden jüngeren Töchtern erneut in eine eigene Wohnung zu ziehen. Sie selbst war damals dreiundvierzig, die jüngste Tochter sieben und die zweitälteste Tochter neun Jahre alt. Für deren Unterhalt kamen die behördlichen Stellen auf. Der Vater hatte nur den Unterhalt für seine eigene, die jüngste Tochter zu zahlen. Majilia verdiente in kleinem Umfang hinzu. Mutter und Töchter kamen untereinander sehr gut zurecht.

Doch traten nach wenigen Monaten des Zusammenlebens in der neuen Wohnung ernsthafte Beeinträchtigungen des Wohlbefindens der Mutter auf. Majilia wurde sich intensiv der Tatsache bewusst, dass sie wegen einer früheren Infektion mit dem akquirierten humanen Immundefizienzvirus auf tägliche Medikamenteneinnahme angewiesen ist. Sie hatte Schwierigkeiten, dies potenziellen Partnern zu vermitteln. Außerdem erkannte sie, dass ihr kaum offizielle Beschäftigungsmöglichkeiten offenstanden, selbst, wo es allein um Putzen oder Pflegen ging, spielte die Infektion eine Rolle und bedeutete Nachteile bereits bei der Bewerbung um eine Stelle. Die Infektion ging auf eine Vergewaltigung zurück, die sie in Kenya erlitten hatte. Trotz dieser war die jüngste Tochter völlig gesund zur Welt gekommen. Bei Majilia häuften sich Selbstzweifel, insbesondere in den Zeiten, wo die Töchter in der Schule waren und sie allein zuhause war. Sie hatte eine inoffizielle Arbeitsstelle verloren, da der Betrieb schloss, so fehlte der soziale Kontakt zu Arbeitskolleginnen wie auch das geringe Einkommen, das ihr erlaubte, die Situation durch kleine, selbst erarbeitete Belohnungen der Töchter und der eigenen Person zu kompensieren.

Ihr trauriger Zustand wurde ihr selbst nur widerwillig bewusst. Er blieb aber den Menschen in ihrer Umgebung nicht unentdeckt. Der ältesten Tochter wurde bewusst, dass ihre Mutter litt, ebenso dem Freund der Tochter und einigen Freundinnen von Majilia. Vor allem aber erfuhr eine jüngere Schwester davon, die nach einem Aufbaustudium in Deutschland wieder in Kenya lebte. Über diese Schwester war auch die weitere Familie informiert. Allerdings war das väterliche Familienoberhaupt ein (?) Jahr zuvor verstorben, für die umfangreiche Geschwisterschar war das ein großer Verlust. Anlässlich des Todes des Vaters wurde auch bewusst, dass er, gemeinsam mit der Mutter, die Kinder größtenteils streng erzogen hatte, wovon sie jedoch in ihrer jeweiligen Schulbildung sehr profitiert hatten. Sie waren alle gut ausgebildet. Neben der über viele Jahre präferierten Majilia gehörten die Schwester, die in Deutschland studiert hatte und die älteste Tochter Majilias, die nun allein wohnte, zu denjenigen seiner Nachkommen, mit denen er einen intensiven Austausch von Gedanken und Gefühlen gepflegt hatte.

Die kenyanische Kernfamilie hatte über Jahrzehnte intensive Beziehungen zu den vielen Nachbarn unterhalten und pflegte ein gastfreundliches Haus. Früchte und Milch aus dem kleinen landwirtschaftlichen Betrieb, den die Mutter unterhielt, wurden oft freigiebig mit Nachbarn geteilt. Der Vater selbst war ein begabter Mechaniker gewesen, der über eine angesehene Position und entsprechendes Einkommen verfügt hatte.

Ein knappes Jahr nach dem Tod des Vaters, den Teile der großen Familie – wie gesagt – tief getroffen hatte, hatte die Familie aufgrund der gewaltsamen, von offiziellen Stellen mit Geldern und Maßnahmen gesteuerten und angeheizten Auseinandersetzungen zwischen bis dahin friedlich nebeneinander lebenden Stammesangehörigen ihre Farm verloren. Das Gebäude war niedergebrannt worden, Hausrat und Landwirtschaftsgerät gestohlen. Der größte Teil der Familie lebte seitdem bei einem Sohn, der als Lehrer in einem College an der Südküste arbeitete und nebenbei ein Lebensmittelgeschäft betrieb. Zwei Schwestern hatten zuvor Green Cards für die USA erhalten.

Majilias ärztliche Diagnose lautete Depression. Da sich manifeste Suizidintentionen eingestellt hatten und sie beständig auf Medikamente zur Unterdrückung des Immundefizienzvirus angewiesen war, wurde die Einweisung in eine Klinik veranlasst. Von der Immunkrankheit wagte sie engen Freunden erst am Vorabend der Einweisung zu berichten. Es hatte sie über die gesamte vorangehende Zeit zu sehr belastet, dies für sich behalten zu müssen. Aufgrund der Einweisung geriet die eigene Familie in Organisationsschwierigkeiten. Die älteste Tochter kümmerte sich neben ihrer Ausbildung mit ihrem Freund um die beiden kleineren Schwestern. Derweil fanden Gespräche zwischen Majilia und den behandelnden Ärzten täglich rund eine Stunde statt. Nach zwei Wochen war noch nahezu nichts geschafft, der äußere Druck aufgrund der von der Mutter getrennten Töchter setzte ihr selbst jedoch weiter zu. Es war klar erkennbar, dass eine Kliniktherapie unter solchen Umständen nahezu unmöglich zu Ergebnissen gelangen konnte.

Die Schwester, mit der sie eng verbunden war, nahm von Kenya aus Kontakt zu einem deutschen Freund auf, der mit Majilia in periodischem, aber nicht engem Kontakt stand. Die Schwester und der deutsche Freund hatten sich häufiger über die hier zum Thema stehenden, umfangreichen Aspekte der Begehrensökonomie ausgetauscht. Aus der Antwort auf eine Frage zur ‚Financial Crisis‘ war ein Essay über zwei Terme Lacans entstanden, welche auch Verbindungen zur Nichtrepräsentation ethnologischer Grundfigurationen im Modell der von Lacan angewandten Analyse aufwiesen. Wir – ich war der Freund der Schwester – begannen, uns über die Situation auszutauschen. Wir taten das so intensiv, wie es über siebentausend Kilometer Entfernung möglich ist. Uns beschäftigte am meisten in der Melancholie das verlorene Objekt a, dasjenige, dessen Repräsentation im Diskurs des Selbstbezugs am stärksten unterdrückt oder sogar verworfen ist (forclusion).

Die Suche kam, nachdem die Richtung feststand, schnell zum Ergebnis. Die Schwester wusste, dass die Beziehung Majilias zu ihrem ältesten Sohn seit Jahren unterdrückt war. Weder der Ehemann, noch die jüngeren Töchter oder irgendjemand aus dem deutschen Freundes- oder Bekanntenkreis wussten von diesem Sohn. Gleichwohl hatte ich selbst diesen Sohn bei einem Besuch kennengelernt, den ich dem Bruder Majilias, dem Collegelehrer, abstattete. Bei ihm lebten nach dem Verlust der Farm auch die Mutter und ebenso ihre beiden jüngsten Söhne, sowie Majilias Sohn, den sie als weiteren Bruder ausgaben. Dieser junge Mann hatte bei dem Bericht, den ich dort über das Leben der Töchter – zu diesem Zeitpunkt studierte die jüngere Schwester noch in Deutschland – gab, mit größter Aufmerksamkeit als einziger der jüngeren und mit weit offenen Augen zugehört. Erst später erfuhr ich, dass er über seine Mutter und deren Lebensumstände etwas in Erfahrung bringen wollte.

Die Schwester hatte sich spontan fest entschlossen, auf antipsychiatrischem Weg Hilfe zu leisten und ein günstiges Flugticket für ihre Schwester organisiert. Sie sollte ihren Sohn in die Arme schließen können und ihre angestammte Familie nach etwa acht Jahren endlich wiedersehen und einige Wochen mit ihr verbringen können. Majilia hatte über Jahre das Geld gefehlt, eine solche Reise selbst zu buchen, es sich aber intensiv gewünscht, insbesondere unter Mitnahme der jüngeren Töchter. Es waren umfangreiche Organisationen zu treffen, um die kleineren Töchter bei Abwesenheit der Mutter versorgt sein zu lassen, ebenso weitere finanzielle Hilfe zu organisieren und Transfers zu realisieren. Mit dem Hausarzt war die ‚Heim‘-Reise vage abgesprochen, der Klinikaufenthalt wurde nach der Unterbrechung wegen einer längeren Feiertagsperiode nicht wieder aufgenommen und Majilia reiste zu ihrem Sohn und ihrer Familie. Während einer wegen der schwachen Internetverbindung schwer zu organisierenden Skypekonferenz habe ich eine so souveräne Mutter und einen so befreiten Sohn erlebt, dass das Bild wirklich zu Herzen ging.

Was sich als Depression klinisch darbot, hätte bei dem dort eingeschlagenen Weg kaum zur Entdeckung dieses großen Postens des Objekt a geführt. Es war das soziale Zusammenwirken unter der Prämisse, dass Psychosen sich im Gegensatz zu Trauer über wirklich und unwiederbringlich Verlorenes[lxviii] an Wirklichkeitsbezügen festmachen lassen.

Wir haben gelernt, dass ein offenes Thematisieren mentaler und emotionaler Defizit- und Leidenssituationen möglich ist, dass das verlorene Objekt a im Sinne der Temps retrouvé [lxix] zugänglich ist. Die äußeren Verhältnisse verändern sich zwischen Suche und Finden, sie verlieren auch den Zauber des ersten Zugriffs, doch müssen sie das auch, um in die Lebenspraxis aufgenommen werden zu können.

Im Seelenleben Majilias ist aufgrund des weiterhin bestehenden Drucks – der Gatte hatte zwischenzeitlich die Scheidung eingereicht, war schwer erkrankt und suchte trotzdem tyrannisch nach beständiger Fürsorge durch seine Ehefrau und die älteste Tochter, dabei bestehen ökonomische Engpässe fort ebenso wie die schwierige Position am Arbeitsmarkt und die Immundefizienz, aufgrund derer sie nach ärztlichem Gutachten nun offiziell nur wenige Stunden überhaupt erwerbstätig sein darf – noch keine tiefere Ruhe eingekehrt. Sie wird in schwachen Momenten von Vorstellungen über Teufel, die sie quälen heimgesucht. Diese Zwangsbilder aber lassen sich schrittweise konkret zurückführen auf die ihnen zugrundeliegenden Gehalte. Herauszufinden sind darüber hinaus die Motive, die sie bewegt haben, den Schritt in das Leben in einem fremden Land zu wagen – mit einem Partner, dessen Situation sich nachträglich als enttäuschend darstellt.

Da die Töchter in Deutschland sozialisiert sind, ist an eine Rückkehr der Familie in das Heimatland der Mutter nicht zu denken. Auch bedürfen die jüngeren Mädchen noch über lange Jahre intensive, mütterliche Betreuung. Die Immundefizienz stellt eine latente Bedrohung dar und auch eine fehlende emotionale Partnerschaft und die Schwierigkeit, diese zu überwinden, sind ein objektives Defizit.

Wichtige Aspekte aus Black Skin, White Masks wurden hier ausgeklammert, sie sind dennoch von Belang. Das gilt auch für die Arbeit von N. Nunn[lxx] über die Ursachen sozialer Verwerfungen und der daraus resultierenden ökonomischen Rückständigkeit von Teilen Afrikas, die auf jahrhundertelang praktizierten Menschenhandel zurückgehen.



[i]  Das Sein und das Nichts

[ii] Le Séminaire XX, Encore

[iii] Hegel, Phänomenologie des Geistes, Alexandre Kojève, Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens

[iv] Luce Irigaray, Das Geschlecht, das nicht eins ist

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