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Kultur, Todestriebe und Ökonomie

Ulrich Hermanns

Reflexionen zur Psychodynamik der ökonomischen Makrostruktur

In der großen metapsychologischen Arbeit Das Unbehagen in der Kultur von 1930 führt Sigmund Freud aus, weshalb es den Menschen so schwer fällt, eine allgegenwärtige Last von Kultur zu tragen.

Seine Erörterung des konstatierten Unbehagens gründet auf mehr als drei Jahrzehnten praktischer Erfahrungen in der Psychoanalyse – die er entdeckte und deren Theorie er formulierte. Sie gründet ebenso auf Freuds mutigen Spekulationen als Kulturtheoretiker.

Seine Erklärung beleuchtete vor allem den individuellen Triebverzicht, der kollektiv zu leisten ist, nämlich als Notwendigkeit für das dauerhafte Bestehen einer menschlichen Gemeinschaft.

Bei dieser kollektiven Arbeit des Verzichts handelt es sich um ein Modell, das eine höchst umfangreiche Gruppe von Phänomenen umfasst. Sie ist kaum abgrenzbar von der Gesamtheit der Erscheinungen, die man als menschliches Leben entlang seiner urgeschichtlichen Entwicklung bezeichnen könnte. Ebenso bildet sie deren vorläufiges Resultat.

Die Beherrschung von Trieben verbindet die Entwicklung der Einzelwesen mit der Kultur als Ganzem. Solche Triebe sind sowohl libidinös, das heißt mit Lust besetzt, als auch aggressiv, zerstörerisch. Die letzteren werden seit der Arbeit Jenseits des Lustprinzips von 1920 als Todestriebe bezeichnet, Sie stehen den libidinösen Strebungen des Eros entgegen. Beide teilen sich „die Weltherrschaft“. Aus ihnen lassen sich die Phänomene des Lebens erklären.

Freuds Triebbegriff ist explizit nicht biologistisch zu verstehen. Doch bleibt der empirische ebenso wie der konzeptionelle Status der Triebe einigeraßen unbestimmt. Sie sind eher Signifikanten – Zeichen – in einer Kette von Ausführungen über die gesamte Publikationsbreite der Arbeiten Freuds hinweg. Von den Bezugsfeldern, in denen sie agieren, sind sie nicht isoliert vorstellbar. Gewissermaßen handelt es sich also diesbezüglich auch um eine große Erzählung.  

Die relevanten Aspekte von todestrieblich durchwalteter Kultur finden sich zugleich jenseits einer Spur von Genießen (Jouissance), dessen explizite Thematisierung erst entlang der linguistisch durchwirkten Linie retour à Freud bei Jacques Lacan ab 1958 erfolgt.

Es mag das Fehlen eines entfalteten Genießens – ein Außer-Kraft-Setzen von Begehren – sein, das der freudschen Perspektive den totalisierenden, todestrieblichen Zug verleiht. Einem noch von durch Aufdecken von individuell Verdrängtem getragenen Ideal therapeutischer Praxis versetzte die fundamentale Skepsis des späten Freud einen nachhaltigen Dämpfer.

Dessen Konsequenzen war die psychoanalytische Community lange Zeit nur widerstrebend zu folgen bereit – wenn überhaupt –, vor allem vor einer bis dahin deutlich internationalisirten Kulisse in der neuen Welt.

Subjekt, Unbewusstes und Lustprinzip

Unter Kultur versteht Freud alles, was zwei Zielen dient: erstens dem Schutz vor Zerstörungen, welche die Natur verursachen kann und zweitens der Regelung des menschlichen Zusammenlebens, ihrer Beziehungen.

Einem Ich, das in solche Zusammenhänge eingebettet ist, erscheint sein Selbst zumeist so, als sei es gegen ein Äußeres klar abgegrenzt. Doch zeigt sein psychischer Charakter, dass es sich nach innen in ein unbewusstes, seelisches Wesen fortsetzt. Freud nennt dieses das Es. Die Bezeichnung führte er 1923 in dem Text Das Ich und das Es ein, wo sie seitdem die zuvor gebräuchliche Bezeichnung ‚das Unbewusste‘ in vielen Fällen ersetzte.

In diesem Psychischen bleibt als seelische Erfahrung auch das erhalten, was längst vergangen ist. Darauf baut später eine Erklärung zur Entstehung des  Gewissens, welches mit großer Strenge die ursprünglich vom Inneren des Ichs ausgehende Aggression gegen dieses selbst wendet, indem sie es diszipliniert. Seine Waffe dazu ist das Schuldbewusstsein, das aus der Reue über aggressive Akte resultiert. Eine Annahme zum Psychischen ist, dass auch Spuren von Prozessen kollektiver Anpassung, die im Lauf der Menschheitsentwicklung durchlaufen wurden, im individuellen Unbewussten präsent sind.

Das Ich, welches von erwachsenen Menschen als relativ konsistent wahrgenommen wird, hat zuvor ebenfalls eine spezifische Entwicklung durchlaufen. Sie lässt sich nicht nachweisen, jedoch auf der Basis von psychoanalytischer Erfahrung erschließen. Darauf basiert auch die Annahme eines Lustprinzips. Dieses ist durch Aktivitäten charakterisiert, die dem Ich helfen, Unlust zu vermeiden oder abzubauen. Sie gestatten ihm, einen Zustand von Ausgeglichenheit und Spannungsfreiheit zu erreichen. In anderer Ausprägung meint Lustprinzip auch die Herstellung von explizit lustvollen Erlebnissen. Die in den Anfängen der individuellen Entwicklung erlebten Zustände würden ebenfalls als Lust empfunden.

Was das Ich als Lust sucht, lässt sich auch in einem anderen Begriff ausdrücken, nämlich dem Glück. Um solches im Leben zu gewinnen, bedarf es der individuellen Arbeit, die in der Auseinandersetzung mit Anderen eine Vielzahl von Anstrengungen mit sich bringt. Dies verlangt vom Ich vor allem den Verzicht auf ursprüngliche, triebhafte Wünsche. Die Spuren dessen und eine ausdrückliche Verhütung von Leid bewirken, dass ein Ich die Entsagungen als Unbehagen zu spüren vermag.

Kollektivität und Aggression

In der Praxis der Kultur treffen handelnde Menschen aufeinander. Jeder einzelne strebt zunächst nach dem, was dem Individuum Lust verschafft – ob als Vermeidung von Unlust oder als ausdrückliches Lusterleben. Dabei geraten die Menschen in Konflikt miteinander. Es gibt Machtansprüche und um begehrte Objekte entsteht Konkurrenz. Währenddessen befinden sich die einzelnen Menschen in unterschiedlichen Entwicklungsphasen ihrer Fähigkeiten in der Beherrschung von Außenwelt, die einen etwa als Kinder, die anderen als Eltern. Dies geht mit vielfältigen Abhängigkeiten untereinander einher. Freud spricht auch vom Lebenskampf, der in der Kultur stattfindet. In anderen Schriften ergab sich, dass das kindliche Individuum die Abhängigkeit von anderen, vorwiegend den elterlichen Angehörigen, so empfindet, dass es sie liebt, sobald es von ihnen Befriedigung empfängt.

Insgesamt führt die jeweils individuelle Entwicklung zum Anspruch, dass auf die Ausübung von Aggressionen weitgehend zu verzichten ist, um so offene Konflikte zu vermeiden. Früher hatte Freud bemerkt, dass solche Aggressionen bereits im Verhältnis zur Mutterbrust zum Ausdruck kommen, nämlich sobald das kleine Menschenwesen beißen kann.

Eine nach außen gerichtete Aktivität, die in der Außenwelt Zerstörung anzurichten vermag, wird derart konditioniert, dass die intendierte Aggression zurückgehalten wird. Im seelischen Inneren des Subjekts formiert sich dazu eine Instanz, um derartige Aktivitäten zu unterbinden. Freud nennt sie das Über-Ich. Dort ist in zentraler Position das Gewissen beheimatet, um die Ausübung von Funktionen zu gewährleisten, welche die äußeren Objekte vor Aggressionen des eigenen Ichs schützen. Unter diesen sind auch die gegen die ersten Liebesobjekte.

Abwehr von Leid

In der äußeren Welt des sozialen Zusammenlebens gibt es viele Formen von Leid, welches durch Aktivitäten des Ichs möglichst abzuwehren ist. Es hat drei Quellen. Sie umfassen den eigenen Körper in Form von Schmerzen oder den Erscheinungen des Alters, die Außenwelt mit ihren zerstörerischen Kräften und die anderen Menschen, welche ebenso aggressiv wie das eigene Ich auftreten können.

Die Menschen haben zur Vermeidung von Leid und darüber hinaus zur Erzielung starker Lustgefühle umfangreiche Techniken entwickelt. Dazu zählen, neben anderen, eine weitgehende Entsagung lustbetonter Ansprüche, die unter Umständen zurückgewiesen werden können, die Betäubung durch Rauschzustände sowie die Entwicklung von illusionsfördernden Techniken, darunter auch die Religion. Kulturell bedeutender ist nach Freuds Einschätzung, was er Sublimierung nennt, die Hingabe an Tätigkeiten wie Kunst und Wissenschaft und nicht zuletzt die Erzielung von Befriedigung durch Liebe und geliebt werden.

Dabei ist alles Ästhetische, welches in der Kultur umfangreich vertreten ist, durch Eliminierung von Qualitäten bedingt, die ursprünglich sexuellen Quellen entstammen. Im Verlauf der Evolution führte die Aufrichtung des Homo sapiens aus vormals gebückter Haltung zur Entwicklung von Scham, weil mit dem aufrechten Gang seine Geschlechtsteile den Blicken anderer preisgegeben sind. Damit verbunden ist auch die, hier nicht weiter thematisierte, Zurücksetzung des Geruchsinns. Ein anderer, im Text nicht angesprochener Aspekt, beträfe die Kleidung.

Gewissen und Schuld

Das erwähnte Schuldbewusstsein regt sich nicht nur im Zusammenhang mit tatsächlich ausgeübten Aktivitäten, die gegen Objekte oder Personen gerichtet sind, sondern auch, wenn solche nur in der Vorstellung oder als Wunsch präsent sind. Der Grund dafür ist dem verwandt, was in den Ausführungen zur menschheitsgeschichtlichen Entwicklung in Totem und Tabu von 1912/13 dargestellt wurde. Es gründet auf der Idee, dass zu Vorzeiten eine Schar von Brüdern einen mächtigen Vater getötet habe, der sie dominiert und vom Geschlechtsverkehr mit seinen Frauen abzuhalten vermochte. Diesen Vater haben sie nicht nur gefürchtet und beneidet, sondern auch bewundert und geliebt. Nach der Mordtat sei dieser Vater daher unbewusst in die Vorstellungswelt der Täter übernommen worden, nämlich als ein verinnerlichtes Gefühl von Schuld. Seinen psychischen Ort hat das Schuldbewusstsein, wie erwähnt, im Über-Ich.

Das aufkommende Gewissen beruht auf der Unterdrückung von Aggressionen, die gegen ambivalent geliebte Wesen gerichtet sind. Liebe ist demnach eng mit Schuldgefühl und Gewissen verbunden: „Was am Vater begonnen, vollendet sich in der Masse“ (Abschnitt VII).

Was im Zusammenleben der Menschen geschieht, gründet auf einer Übertragung der ursprünglich an ein erstes, Befriedigung gebendes und daher geliebtes oder auf ein ambivalent besetztes Objekt. Die Bindungen innerhalb von sozialen Massen sind ähnlich erotisch aufgeladen und auch lustvoll, sie werden jedoch vom Gefühl der Schuld begleitet, die aus versagter Aggression resultiert. In der Kultur kann man ursprüngliche Triebe nicht ausleben, muss sich stattdessen beherrschen, um mit den anderen verständig zu Recht zu kommen.

Innerseelische Qualitäten und Übertragung auf die Außenwelt

Freud betont, dass Versprechungen einer Religion bezüglich des Ausgleichs von Defiziten, die dem Kulturprozess inhärent sind, in einem späteren Jenseits nicht ausreichend seien, um die Akteure zu befriedigen. „Solange sich die Tugend nicht schon auf Erden lohnt, wird die Ethik vergeblich predigen“ (Abschnitt VIII). Es scheint Freud unzweifelhaft, dass statt eines ethischen Gebots eine reale Veränderung in den Beziehungen der Menschen zum Besitz mehr Abhilfe brächte. Konsequenzen aus solchen Festschreibungen, die durch Recht untermauert sind, vertieft Freud nicht. Angemerkt sei, dass die ungleiche Verteilung von Besitz seit Freuds Schrift überall auf der Welt weiter zugenommen hat.

Seine Perspektive erhellt grundlegend das Verständnis sowohl der Verhältnisse, die im seelischen Inneren, dem Es, herrschen, als auch den Vorgang der Übertragung, welcher dem Kulturprozess zugrunde liegt. Sie erläutert den übergreifenden Zusammenhang.

Aus der Analogie von individuellem, seelischem Geschehen und den Entwicklungen im Feld der Zivilisation – so heißt Kultur in vielen Übersetzungen der Arbeit Freuds – ergibt sich eine entscheidende Frage: „Soll man nicht zur Diagnose berechtigt sein, dass manche Kulturen – oder Kulturepochen – möglicherweise die ganze Menschheit – unter dem Einfluss der Kulturstrebungen ‚neurotisch‘ geworden sind?“ (Abschnitt VII).

Aus welcher Perspektive wäre eine solche Frage zu beantworten? Es handelt sich um den möglichen Pathologiestatus von Kultur, deren kollektiv akzeptierte Institutionen und Regelungen die aggressiven Strebungen der Einzelnen so strikt unterbinden. Freud hofft, dass, trotz der ersichtlichen erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten, sich eines Tages jemand der Frage annehmen wird.

Kollektive Beherrschung der Aggressionen

Das große Thema zum Abschluss betrifft den Umgang mit Aggression in der Kultur überhaupt. Der Stand von Technik war bereits damals so gravierend weit entwickelt, dass sich die Menschheit als ganze hätte vernichten können, wie Freud sagt. Die Ursachen so bedrohlicher Gegnerschaft von Gemeinschaften führt er in diesem Text nicht aus. Anlehnungen könnte man in Massenpsychologie und Ich-Analyse von 1921 finden, wo Freud zeigte, wie libidinöse Kräfte funktionieren, um Massen zusammenzuhalten. Sie bedienen sich dazu eines Ichideals, das mit dem Ich durch Objektbeziehungen und Identifizierungen eng verbunden ist.

Für die Kultur ergibt sich die übergreifende Aufgabe, „alles aufzubieten, um den Aggressionstrieben der Menschen Schranken zu setzen, ihre Äußerungen durch psychische Reaktionsbildungen niederzuhalten“ (Abschnitt V). Unter Reaktionsbildungen versteht Freud unter anderem sexuelle Konditionierung, Gewissenhaftigkeit, Mitleid und auch die Forderung nach Gerechtigkeit; etwas, welches das Ich bedroht, wird unbewusst als Symptom und teils charakterbildend abgewehrt.

Wie dramatisch Freud die Entwicklung gesehen hat, kommt in dem Satz zum Ausdruck, mit dem er die Arbeit beschließt: „Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden“ (Abschnitt VIII).

Seine Einschätzung, wie schwierig es ist, dass solches gelingen kann, fand in der Konversation mit Albert Einstein im Jahr 1932 Fortsetzung. Einstein fragte, was zu tun wäre, um das Verhängnis eines Krieges von den Menschen abzuwenden. Freud bemerkte: „Alles, was Gefühlsbindungen unter den Menschen herstellt, muss dem Krieg entgegenwirken“. Der selbstverständlichen Empörung von Pazifisten wie Freud und Einstein müssen also ausgiebige Aktivitäten zur Seite stehen, welche die Gemeinschaft fördern. Die Aktivitäten des Völkerbundes allerdings würden nicht ausreichen, weil ihnen die nötigen Machtinstrumente fehlen.

Konstruktive Fortschreibung: Ökonomie und Warenwirtschaft

Die von Freud geschilderte, bedrohliche Grundsituation besteht zweifellos unverändert fort. Die obige Zusammenfassung soll helfen, zu verstehen, wie wichtig es ist, libidinöse Strebungen zu stärken, welche die aggressiven, dort, wo sie die Gemeinschaft bedrohen, ablösen und umformen. Ob sich solches aktiv beeinflussen lässt, oder ob es eher eine allmähliche Entwicklung ist, muss, mangels Empirie, bis auf weiteres, eine Frage bleiben.

Die Konfliktsituation innerhalb der Kultur würde sich weiter verschärften, wenn von der kollektiven, kulturinhärenten Aggression gegen das Makroobjekt Natur zumindest tendenziell abgelassen würde. Dann würde nämlich ein zentraler Bezugspunkt der Bindung von Aggression geschwächt. Lange wurde die auf übermäßige Ausbeutung mit bedrohlichen Veränderungen für das Leben auf Erden reagierende Biosphäre weitgehend ignoriert.

Auf solch kollektiver Aggression ohne explizite Sühne beruht jedoch die inzwischen weltweit vorherrschende Konsumkultur. Die Güterproduktion, ihre Begleiteffekte und die finale Konsumtion von warenhaft Geschaffenem bringen eine kaum beherrschbare Zerstörungswirkung für das ökologische Ganze mit sich. Doch beziehen große Teile der Menschheit ihre Einkommen, die sie zur Teilhabe am Konsum berechtigen, aus derart industriellen Arbeitsprozessen.

Darüber hinaus zeigt eine Ökonomie des Begehrens, wie sehr sich Wünsche und die auf deren Realisierung drängenden Ansprüche an Warenbesitz sowie einem daraus entspringenden Vergnügen und dem damit einhergehenden sozialen Status orientieren. Bezüglich solchen Besitzes Benachteiligte suchen ihre Vorbilder vorwiegend dort, wo die Maxime glückverheißender, umfänglicher Privatbesitz lautet.

Kooperative Einbindung

Welche Form von entwickelter Kultur könnte libidinöse Bindungen dahingehend wenden, dass die Menschen bereit wären, neben die nicht selten fetischhaften Resultate von Massenproduktion anderes zu stellen, das ihren Zusammenhalt friedvoll entwickelt? Wem und wofür wäre Anerkennung zu zollen, wenn weniger, statt mehr Güter verbraucht würden? Was träte an die Stelle von Materiellem? Es müsste mehr sein, als Gewissenhaftigkeit, Freiheitsliebe oder Gerechtigkeit. Etwas, das alle Einzelnen auch individuell befriedigt. Wäre Empathie hilfreich und wie wäre sie zu erreichen?

Der heutige Verzicht auf große aggressive Auseinandersetzungen wird zweifellos durch kollektiven Naturverbrauch und die dazu erforderlichen Bande wirtschaftlicher Kooperation erreicht. Solche Sublimation ist weithin akzeptiert. Sie ist elementarer Bestandteil von Kultur und gleicht Unlust durch käufliche Objekte aus. Darauf beruht eine weltweit arbeitsteilige Ökonomie.

Fundamentale Ungleichheiten in der Möglichkeit der Teilhabe am Prozess sowie an den Resultaten sind dabei unübersehbar. Sie sind durch individuelles Handeln nicht zu beseitigen. Die übergreifenden Machtverhältnisse sind dem gegenüber zu stark.

Wie also wäre aus dem Abwehrvorgang, der auch als Identifikation mit dem Aggressor verstehbar ist, ein Verhalten zu entwickeln, das den Weg zu den anderen friedvoller gestaltet?

Oder ist es nur so zu schaffen, dass institutioneller Zwang die Aggression der Starken begrenzt? Gibt es einen Mittelweg, der weniger auf Aggression gegenüber dem Naturstoff setzt, als vielmehr auf kooperatives Agieren? Könnte dadurch autonomes Unbehagen in akzeptierte Kompromisse übergehen?

Ohne Autoritäten, die sich auch in Kooperativen auf breite Zustimmung zu stützen vermögen, ist das nicht vorstellbar. Diese jedoch sind nach wie vor diejenigen, die anderen individuelle Teilhabe am kollektiv Verfügbaren garantieren – und ihre eigenen Anteile im Rahmen dessen bestimmen, was kollektiv akzeptiert ist.

Die ethische Integrität von Menschen, die Appelle an andere richten und Anweisungen zu geben befugt sind, scheint daher zur Umwandlung von destruktiven Todestriebe in libidinöse Bindungen unerlässlicher denn je.

 

 

Ulrich Hermanns
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