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Violence my love?

Karl Thomas Petersen / Ulrich Hermanns

Zwei Briefe über Praktische Philosophie, Krankheit und Todestrieb 

Ulrich Hermanns, 13.Januar 2015

Lieber Herr Petersen,

(…) Da gab es im vergangenen Jahr die Lektüre Ihres Briefwechsels mit Rudolf Heinz zur Psychosomatik.[1] Das Werk hatten Sie ja bereits vor Jahren mittels eines kleinen Textes promotet, es muss wohl der Titel gewesen sein, der so wenig zur weiteren Beschäftigung inspiriert hat. Liest sich wie der eines Schulbuchs zur Biologie, Mathematik oder Chemie, Mittel- oder Oberstufe. Neutral und ganz dem unerschlossenen Anderen zugehörig. Wenig Leselust freisetzend geht es mit dem Untertitel weiter[2]. Als ich zuletzt etwas mit dem Wort ‚Pathognostik‘ auf dem Titel im Laden bestellte, stotterte die Buchhändlerin: Pa-to ... und dann erlahmte ihr guter Wille, etwas zum Verständnis beizusteuern.

Dagegen ein gänzlich anderes Bild, wenn man die ersten Briefe des Buchs liest. Sie sind dicht, voller Signifikate, Mitteilungsbedürfnis. Für die angestrebte Herstellung der Verständnisdimension sind die Selbstoffenbarungen – Ihre, vor allem – zweifellos der geeignete Weg. Gespräche hätten hier erstens die Repräsentation außen vor gelassen und zweitens den Status von Confessiones eher in eine Beichte verwandelt, ‚Schuld‘ (wessen?) wäre in Gemurmel und gegenseitigem An- wie Wegblicken vorzeitig diffundiert. Sie äußern sich ja im Bilde Rudolf Heinz’ von den Austreibungen des Legion zu diesem Verschwindens- oder besser: Nicht-Verschwindenskomplex später selbst. Ich bin allerdings etwas anderer Auffassung: selbstverständlich fräßen Raubfische auch Schweine, jedoch nicht im Süßwasser, Flusskrebse sind es, die von Aas leben, sie wären es wohl, die Legion final zu absorbieren hätten und sodann sicher auch auf unseren Speiseplan kämen. Sartre allerdings hasste ja das Krabbenartige!

Biologische Nahrungskette des bösen Geistes. Doch: verdünnt, kollektiv de-potenziert und damit Gegenstand des kulturellen Prozedierens. Des Verschiebens von Schuldquanten sozusagen auch, über den Einbezug von culpabilité (Schuld) und dettes (Schulden) den Eingang von Begehren in die Makroökonomie nehmend. Mein Arbeitstitel für solches: Begehrensökonomie.[3]

Wie sehr diese Ökonomie(n) ding- und warenfetischistisch ausgestaltet sind, brauchen wir uns nicht gegenseitig zu erklären. Wobei ‚Waren und Warenschicksale‘[4] bisher nur überflogen wurde, der Hang seines Autors zum altgermanischen Langsatz steht der En passant-Lektüre doch sehr im Weg.

Was auch für den Einstieg in ‚Sisters‘[5] ungefähr zutrifft, wobei mich da sehr gestört hatte, dass die gute (göttliche gar?) Annie Lennox hier bloße Stichwortgeberin war. Der Übergang vom androgyn mysteriösen Desaster-‚good‘ zum knallharten, tobende Eifersucht vorbereitenden Rock-Egoismus mit dem kleinen Exkurs in den zwar manifest gleichgeschlechtlichen, doch aus dem Kontrast von black-and-white-skin ihren performativen Reiz beziehende Doppelrolle – ist Annie hier nicht auch der getarnte ,Mann‘? – zu crazy, um das so eben rationalisieren zu wollen. Doch hatte Heide Heinz ja die Jünglinge hypersphinxisch zum Defilee gebeten, seltsame Präsentation der Körperteile, um die es sich bei Ihrer Krankheit auch verschoben repräsentiert ja auch geht.[6]

Wobei ,Krankheit‘ aus meiner Sicht nicht das Begehren meint, das Sie im Eingangssatz Ihres ersten Briefs an Rudolf Heinz so annoncieren, sondern den Leib. Krank wäre es insofern, als es sich übermäßig auf den eigenen Leib richtete. ,Die Sorge um sich‘ (souci) ist mehr als berechtigt, ich denke, dass Foucault genau wusste, worum es sich geht – nach den zu spät als tödlich erkannten Exkursen zu den Lüsten. (War er etwa zu blöd?)

In einer auf das Selbst direkt gerichteten Perspektive entgeht das Begehren seiner Bestimmung. Dafür steht vielleicht Ihr aufkommender Horror unter dem hermetisch abriegelnden Duschstrahl.

Wobei die geringe Zahl der im Briefwechsel – verzeihen Sie bitte das Sprunghafte – reklamierten Außenbezüge schon auffällig ist. Nach Musik mussten Sie ja geradezu offensiv befragt werden, die Binnen- und externen Resonanzen schwingen so schwach, dass es bedenklich ist. Libido herbei, Lebenskraft!

Wobei – nächster Sprung – ich Sie, wenn Sie das sind, so erinnere, dass da ein stämmiger Mensch mit dunklen, langen Haaren seinerzeit im Heinz-Umfeld unterwegs war, den ich immer für einen Roadie gehalten habe, einen Backstagemitarbeiter von Musikperformern, der die Lautsprecheranlage aufbaut und prüft. Sie trugen eine dunkelrandige Brille, oder schauten zumindest so, als benötigten Sie eine? Trugen rot-karierte Hemden manchmal? Und wuselten am Rednerpult bisweilen herum? Vielleicht alles Blödsinn, erscheint mir nur gerade unterschwellig memorierbar.

Der auf Kraft gerichtete Körperkult, den Sie ja schildern, ist eben der Ausdruck des etwas eigenwillig fokussierten Begehrens. Wenn es so ist, scheint mir das Ausdruck einer unbestimmten Frustration zu sein, gewesen zu sein. Sie berichten ja auch von den nicht sehr lebhaften elterlichen Bezügen, doch von wem mag die subakute Stasis ausgegangen sein? Ganz frühe Frustration des Kindes bereits? Vielleich sogar der Präsenz von Eltern überhaupt geschuldet? Dem solipsistischen Eigenbezug zuwider?

Sehen Sie mir solche Spekulationen bitte nach, doch sind sie irgend Resultate der gegebenen Texte. Wozu sehr viel mehr zu sagen wäre, eben auch das, was Sie und Rudolf Heinz schließlich in der Schriftlichkeit des Symptoms festmachen. Wobei ich wünschte, dass es eben nicht dort verbliebe!

Die vielen wiederkehrenden Ängste sind sehr verständlich, auch die Angst, dass Schlimmeres noch bevorstände. Die Beleuchtung der medizinisch-therapeutischen Institutionen, einschließlich des Amtsarztes – eine Zumutung sondergleichen, die Sie zu Recht so ausweisen, Rudolf Heinz spricht Klartext – und der zu introjizierenden Medikamente scheint notwendig, doch zugleich hilf-, weil alternativlos. Ausgeliefert, bis zur Dreingabe des Denkens. Wobei der Selbst-Repräsentationscharakter des wiederkehrenden Denkflusses, die Verbundenheit mit dem vormals Gestauten mir sehr luzide beobachtet scheint, ein Highlight der Korrespondenz, denn: welche ansonsten bestehende Denkautonomie mag es denn überhaupt geben? Weiß nicht, ob Sie seinerzeit den Vortrag von Dr. Clausen zum Zellgedächtnis gehört haben (Balance der Apothekerwaage)? Die Spekulationen zum erinnerungslosen Gedächtnis bringen da doch eine gehörige Skepsis auf, nicht aber, ohne Rückblick auf die konkrete Gestaltung des – hier – neuronalen Bezugs auf Sympathikus und Parasympathikus.[7]

Eine Bemerkung noch zum Status der in Rede stehenden Korrespondenz. Bei Lacan finden sich vier Diskurstypen, sicherlich ein wenig zurechtgerückt, doch nimmt der Discours de l’Analyste darin eine Position ein, die mir wichtig scheint. In diesem Diskurs ist auf dem Platz der Wahrheit das Wissen (S2) angesiedelt. Das heißt, nur im analytischen Diskurs gibt es diese Koinzidenz. Solches kann gar nicht überschätzt werden, heißt es doch, dass beispielsweise im universitären Diskurs der Signifikant am Platz der Wahrheit sich aufhält, und der Signifikant ist ebenso dumm, wie der Herr in der Phänomenologie des Geistes. Es ist der Knecht – französisch unverständlicherweise: l’esclave – der die Arbeit leistet. Im Fall der Korrespondenz sind das Sie, der fiktiv (unbewusst?) einen wirklichen Maître bemüht, um sein Werk zu realisieren. Der Maître bemerkt das auch, er bemüht sich keineswegs, das Zepter in der Hand zu halten, anerkennt des Öfteren die sublimen Einsichten des Analysanten, der sich hart abarbeitet. Einsichten, die in ihren jeweiligen Kontexten nicht zu überbieten sind. Jedoch: ein wenig Hysterie mag auch am Platze sein, insofern es um den Maître geht, der mit listigen Künsten seinerseits beherrscht werden soll. Doch das führte insofern zu weit, als es Ihnen um die Reflexion des tiefen Elendsstatus ging, der nachher so wenig erinnerbar ist, wie das was, Rudolf Heinz in der Aufarbeitung seines Speiseröhreneingriffs in erster Näherung verfasste. Unhaltbarkeit der vorgestellten Todesnähe.

Wenn wir diese Verhältnisse angemessen reflektieren wollten – vielleicht haben Sie es ja auch bereits getan – müsste wirklich tief getaucht werden. Da befände man sich hinsichtlich der Motivation aber eher im Reich des universitären Diskurses, der mächtigen Signifikanten, die es zu erkunden gilt. Wollen wir das? Ich kann es für mich nicht bejahen, selbst um den Preis, agnostisch gescholten zu werden. Allzu oft ist das Erkenntnisinteresse weit hergeholt, was auch dazu führt, Forschungen nicht an den Stellen zu betreiben, wo sie nützlich für die Menschen sind, und das am besten mit den Betroffenen zu tun, sondern versteckt hinter Mauern, in dämlicher Isolation, die nur die eigenen Ängste widerspiegelt.

Schätze Sie daher als philosophischen Praktiker, nicht unbedingt der achenbachschen Prägung, aber insofern Sie in der Lage sind, anderen einen Resonanzraum – die Musik ist im Spiel, kosmische Sphärenklänge vielleicht, wer hat sie geweckt? – zu bieten, der im Fall der Korrespondenz auf Rudolf Heinz sich richtete. Und warum soll ein Analytiker nicht solches Angebot annehmen? Quasi supervidiert zu werden vom Analysanten, der mehr selbstverständlich auch bereits ist? Zwar dreht sich da einiges im Kreis, man wünscht sich eher auch ‚Luft von anderen Planeten‘ zu spüren, doch ist das unser Los in diesen Breitengraden, sofern der Schrift so umfängliche Verbindlichkeit ihren Forderungen gegenüber eingeräumt wird.

,Es kommt darauf an, was für ein Mensch man ist’, so Fichte in Hinblick auf die Tauglichkeit zum Idealismus. Ähnliches gilt für die Pathognostik. Es braucht zweifellos eine Disposition zu ihr, ein Status zwischen analytischem (sprachlichem) und universitärem (schriftlichem) Diskurs. Ich wünsche mir, dass jede Menge Sinnlichkeit dazwischen liege, poetische wie leibliche, aller Unmöglichkeit zum Trotz. Dass Ihr Leib einer sehr naheliegenden Form sich (temporär?) begeben hat, ist nun Schicksal. War es ihm wichtig, etwa so, wie nachlassende Sehkraft durchaus den Appell abgibt, sich nicht um die optischen Details allzu sehr zu be­mühen, sondern um das ‚große Ganze‘? Doch können wir meist nicht loslassen, auf das Selbstlesen und -schreiben nicht verzichten und sich Vorleserinnen und Sekretären zu bedienen stattdessen, nach langer Eigenaktivität andere nah an sich heranzulassen, los zu lassen und trotzdem Befriedigung zu erhalten? Wer weiß? Wissen am Platz der Wahrheit, was brauchen wir mehr? Unsere kleinen Rhizome, Mikropolitik des Wunsches ... wenn’s nicht gerade Briefmarkensammeln ist! Wer Verantwortung für andere hat, braucht natürlich passende strategische Komponenten.

Gleichwohl, ein riesiges Feld des Politischen, einschließlich des Biopolitischen, existiert und ruft. Wo unsere Energien hinfließen, welchen Forderungen wir uns ergeben, ist wiederum Sache der Disposition.

Des Räsonnements ein Ende nun, mag das eine erste Verständigung darstellen. (…)

Bis bald, bleiben Sie munter,

Ihr Ulrich Hermanns 

KThP, 18.03.2015

Lieber Ulrich,

(…) ohne weitere Präliminarien nun sogleich aber zu Deinen Bemerkungen zu „Leib – Ding – Körper I“[8] vom 13.01.15, die mich außerordenlich erfreut haben und auf welche ich, kreisend um die Themen Praxisemphase, Objektivitätsgnosis, Pathologie und Todestrieb, hier eingehen möchte.

Es ist der Wunsch eines jeden Autors ja sicherlich – das wird Dir, denke ich, nicht anders gehen, als mir – so genau und aufmerksam gelesen zu werden, womit ich in erster Linie mich beziehe auf von mir nur angedeutete, nicht näher ausgeführte, von Dir aber wahrgenommene, Implikationen. Über die mit der Ernsthaftigkeit Deiner Lektüre für den Autor verbundene narzißtische Prämie im engeren Sinne hinaus aber meldest Du mir mit der Grundtendenz der Vielzahl Deiner notierten Denkmotive – und das ist viel wichtiger als jene – zurück, daß ich das, was ich über die Bearbeitung meiner Erkrankung mit RHs Hilfe – Wiedergewinnung des Denkens wider die Interferon-„Paranoia“, Rückverwandlung des organpsychotischen Zelldeliriums in das psychosennahe, produktiv aber entäußerbare Delirium von philosophischer Schrift (eine mögliche pathognostische Philosophiedefinition dies, wie Dir zweifellos aufgefallen ist) hinaus erreichen wollte, auch erreicht habe: ein Beispiel zu geben nämlich dafür, wie pathognostische Selbsterfahrung (Philosophen-spezifisch skriptural hier) – eingedenk immer aber, dies muß in Anbetracht der früh schon vollzogenen pathognostischen Kritik des Selbst-Begriffs gesagt sein, des Wissens um die Phantasmatik desselben, des drohenden Irrtums der Hoffnung auf ein absolutes Isolat und dieses Wissen ermäßigend und korrigierend, immer bei Bewußtsein gehalten, mittransportierend – aussehen kann und auch in welchem Verhältnis diese, selbst schon praktisches Geschehen, nicht nur zur pathognostischen Therapie-Praxis, sondern auch zur theoria, Philosophieschaffung als „autistisches“ Geschehen am Schreibtisch – ein Mann (bei Irritation bitte HH fragen, ob es Philosophinnen gibt), allein mit dem Zuspruch – steht; und auch das Denken ist doch letztlich Praxis – Widerlautendes haben wir bekanntermaßen, aber nicht nur, dem Marxismus und seiner Arbeiterglorifizierung zu verdanken.

Ja, das hat mir ausnehmend gut gefallen, als philosophischer Praktiker wahrgenommen zu werden (und mit Achenbach hat das, was ich mir diesbetreffend vorstelle, in der Tat nichts zu tun). Einige Anmerkungen an dieser Stelle zu Deiner Einschätzung (vorwiegend meiner) „Selbstoffenbarungen“ – welche vorstellig werden sowohl als Schilderung von Krankheitsbildern und Symptomen, aber auch zum Beispiel als angerissene Schilderung von gesellschaftlichen Milieus, in denen ich mich bewegte, politische Selbstpositionierungen, zuweilen auch nur als Erwähnung von Interessenslagen, die mein Leben zu unterschiedlichen Zeiten prägten und prägen – als „der geeignete Weg“.

Die Schilderung subjektiver Historie als Schilderung der objektiven Verhältnisse, in welchen das Subjekt sich – sukzessive und seinsgarantierend ohne je erreichbaren Abschluß – auf je spezifische Weise als empirische Existenz an der Dauerkonstituierung seiner selbst abzuarbeiten genötigt ist, ist einerseits thrilling, macht den Leser neugierig und sorgt idealiter dafür, daß er „am Ball bleibt“, darüber hinaus aber, hier liegt die eigentliche Bedeutung ihres Stellenwerts, ich deutete es schon an, ist es die Spezifität der je subjektiv vollzogenen Reintrojektionen dessen, was als dingphantasmatisch-aisthetische Verfaßtheit von Objektivität, die das Körper-Ding-Verhältnis im Ganzen – inklusive der Dinge medial-symbolisch-„ideologischen“, historisch variierenden (den „Stand der Entfaltung der Produktivkräfte“ sowohl definierenden und sich diesem anpassenden, als auch dessen Produktion Vollendung zuvor ausmachenden) identifikatorisch-determinierenden Hüllungen – strukturiert, welche aus der philosophischen Erkenntnis therapeutische Valenz, Pathognostik im engeren praktischen Sinne, werden läßt – schließlich ist es kein „allgemeines“, kein serielles „Standardsubjekt“, welches therapiert wird und ein und dieselbe objektive Gegebenheit – diese hinwiederum Variation der einen thanatologisch verfaßten Grundstruktur (Achtung! Pathognostischer Monismus) – kann bei unterschiedlichen Patienten, wie jeder therapeutische Praktiker weiß, gar diametrale Effekte – die ja keine Strukturmodifikation bedeuten, nur eben Introjektions-, Konsumtionsvariabilität (die sich zudem nicht in Differentialdiagnostik erschöpft, über diese hinausgeht) – zeitigen; eigentlich eine Trivialität, diese Feststellung, ich habe aber den Eindruck, es sei sinnvoll, dies noch einmal eigens festzustellen – und sei es nur zum Behufe unserer Selbstvergewisserung.

Insofern kann ich gut verstehen, daß Du „die geringe Zahl der im Briefwechsel (…) reklamierten Außenbezüge“ monierst, andererseits war dieses ungewöhnliche Textgenre einer skripturalen Therapie auf Philosophie-Wiedergewinnung hin (soetwas macht man ja vielleicht nur einmal im Leben) für mich, der ich bis dahin vorwiegend grundlagentheoretisch orientiert war, vollkommen neu und ich wollte von der problembezogenen Philosophie-Schaffung im engeren Sinne – nicht auch zuletzt vager Ängste wegen, daß die angestrebte (Selbst-)rettung dann nicht funktioniert – nicht zu weit mich entfernen; außerdem ist der Außenbezug, wenn er denn zu üppig wird, in der Tat meinem – ein Beispiel für Dein, von mir oben erwähntes, Gespür für Implikationen in „L-D-K I“, die ich nicht ausführte – „solipsistischen Eigenbezug zuwider“. Eine Einschätzung übrigens, die mich an einen Kommentar von Weismüller über meinen Text „Genealogisch Denken“[9] erinnert (W. ist eben auch, das muß zugestanden sein, klug [gewesen?]); er diagnostizierte in einem Brief an HH „ein zum Teil auch hermetisch-selbstrekursives In-sich-Hineinschreiben“. Was soll ich sagen? Stimmt – und so kommt es, wie Du vielleicht nachvollziehen kannst, daß in meiner eigenen Wahrnehmung nach wie vor die Außenreferenzen garnicht so gering zu sein scheinen. Daß das Ganze mit einer libidinösen Teilanästhesiertheit zu tun hat, die schon bestand, bevor die Strahlentherapie meine Nerven verbrutzelte und damit auch die libidinösen Energien im weiteren Sinne progredient schwächte, ist zudem richtig (wieder ein „Treffer“) – wenn man die entsprechenden Energien doch nur so einfach herbeirufen könnte, wie Du insinuierst …

Nun denn, das Praxis-Thema begünstigt das Thema der Außenbezüge und deswegen hier noch ein wenig, ganz kurz nur, Dich miteinbeziehende, Sozialisationskommentierung. Es ist nämlich sicher nicht umsonst so, denke ich, daß Du, ebenso wie ich, das Thema einer anzustrebenden praktischen Relevanz von Philosophie, gar einer philosophischen Praxis, positiv besetzt. Da wir etwa im gleichen Alter sind (ich bin Jahrgang 1953) und das „geistige“ Klima der Zeit, in der wir sozialisiert wurden, schon einen gehörigen Aufwand an Ignoranz erforderte, wollte man den allenthalben traktierten Themen sowohl der Selbsterfahrung, als auch der, von Gerechtigkeitsbedürfnissen utopisch befeuerten (die Marxsche „neue Erde“), möglichen Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse und besonders dem vehement vorstellig werdenden Relevanzmonitum der Interdependenz („Das Sein bestimmt das Bewußtsein“) dieser beiden Themen, der Bemühungen des philosophischen Zusammendenkens beider – der schon länger bestehende (wenn immer man Wilhelm Reich als Proto-Freudo-Marxisten ansehen kann) Freudo-Marxismus: Lorenzer, Marcuse und die Folgen – aus dem Wege gehen, ist es recht naheliegend, davon auszugehen, daß dies nicht – gerade weil wir damals pubertierten – ohne Auswirkungen auf uns geblieben sein kann (die aber auch gegenteilig hätten ausfallen können, mit welcher Konzession ein wenig relativierend darauf verwiesen ist, daß da natürlich durchaus noch mehr im Spiel ist).

Conditio sine qua non aber sicher nicht, ein mögliches Mißverständnis muß an dieser Stelle abgewiesen sein, die subjektiv-empirische Erfahrung für das Denken, dies hieße nicht nur, die Möglichkeiten desselben sträflich kupieren, man geriete auch sogleich zu nah an lebensphilosophische Abgründe, wohl aber ist durchaus die Ausgestaltung, die das Denken nimmt, nicht nicht von den objektiven Konditionen, unter welchen der Denker wurde, geprägt. Worauf ich, die „Außenbezüge“ bedenkend, hier vielmehr abzwecke, ist die „Schicksalsanalyse“ Leopold Szondis, auf welche mich RH in „L-D-K I“[10] aufmerksam machte. Als ich RHs Ausführungen „Kriegsödipus – mein Ödipuskomplex in Kriegs(-und Friedens)zeiten“[11], wünschenswert erhellendes Exempel für das, was ich hier sagen will, las, erinnerte ich mich wieder daran und als ich mich echauffierte über RHs verzweifelten Kampf um die Anerkennung der möglichen Modifikation des Ödipuskomplexes durch objektive Konditionen – inbesondere, wenn es um so umfassend sich totalisierende Phänomene, wie einen (Welt-)Krieg sich handelt, liegt soetwas ja wirklich ziemlich nahe – wider die stupide-gewalttätige subjektivistische Objektivitätstabuisierung seiner traditionell-psychoanalytischen Ausbilderinnen, kam mir wieder nahe, daß Szondis – heute weitgehend vergessenes – Konzept bei entsprechender pathognostischer Umformulierung – so, wie die Organminderwertigkeitstheorie Adlers, die Organprojektionstheorie Kapps, das „Funktionale Phänomen“ Silberers und andere Konzepte in RHs genealogischer Lesart ungeahnte Qualitäten entwickelten – als taugliches pathognostisches Instrument, angelehnt an eine Vorgehensweise, die RH einmal unter dem Titel „politique d’encerclement“[12] formulierte, imponieren könnte und die Rückbindung der vorgängigen objektiven Konditionen (Stand der Entfaltung der Produktivkräfte, siehe oben) an die Vielfalt der je spezifischen differenten Reintrojektionsformen des einzelnen Subjekts mindest erleichtern könnte.

Du hast also, so gesehen, denke ich, völlig recht mit dem Fichte-Zitat, welches Du anführst und auch mit dem Kontext, in welchem Du das tust – auch, wenn wir heute besser wissen als Fichte, wie man wird, was man ist, auf eine Weise wahrscheinlich sogar, die Fichte nicht unbedingt goutiert hätte. Praxis jedenfalls ist kein Philosophieverrat – auch dann nicht, wenn man sich nicht damit begnügt, über die Praxis zu theoretisieren – und sie (letztlich aber nicht nur sie, womit ich freilich keiner selbsterstellten psychoanalytischen Philosophenpsychopathographie das Wort reden will, aber davor bewahrt uns die Art unseres Ansatzes ja) bedarf notwendig der Selbsterfahrung, diese aber ist, auf die richtige Weise durchgeführt, kein Verrat an einer, irgend rein zu haltenden, Objektivitätsgnostifizierung, welche das Dingverhältnis als maßgebendes Modell aller Intersubjektivität zu erkennen befähigt ist, verhindert wohl aber die Verführung zur Selbstpostitionierung im Meta des eigenen Denkprodukts, welche bekanntermaßen sich legitimiert ultimativ dann mittels Logik. Die mit diesen Fragen verbundene „Disposition zur Pathognostik“, von der Du in Deinem Brief sprichst, die in einem „Status zwischen analytischem (sprachlichem) und universitärem (schriftlichem) Diskurs“ besteht, kann ich daher so aufnehmen, daß es für die, die von der Philosophie her kommen, darum geht, wieviel psychoanalytische Philosophiekritik sie aushalten können (was sich nicht zuletzt auf das Selbsterkenntnisthema hin zuspitzt) und für die, die von der Psychoanalyse her kommen, darum, wieviel philosophische Psychoanalysekritik sie aushalten können (was sich nicht zuletzt auf die „Psychoanalyse der Sachen“ hin zuspitzt); beides zusammengedacht, zusammengekommen idealiter in einer Person, die über beide Qualifikationen verfügt (was nicht so häufig ist, auch ich selbst bin ja „nur“ Philosoph, habe nie eine Lehranalyse absolviert) ist dann pathognostische Genealogie.

Dennoch, das der speziellen Art unserer Praxisbemühungen zugrunde liegende Zusammengehen zudem von Philosophie und Psychoanalyse war – bevor ich zu RH fand, war ich überzeugter Heideggerianer und in besonderem Maße der psychiatrisch-psychoanalytischen Abzweigung seines Denkens, der Daseinsanalyse, sehr nahe (wissenschaftstheoretisch gesehen also Hermeneutik-Fan) – und ist für mich nach wie vor – bei aller Theorielastigkeit, die mich bei all’ meiner Praxisbegeisterung ausmacht – untrennbar verbunden jedenfalls mit dem Aspekt von Philosophie, der ihr seit der Antike eignet und ihr durch den Wandel der Zeiten auch nicht verloren ging, nämlich immer auch – als Therapienotwendigkeitsprophylaxe (das wär’s doch: als Philosoph auch etwas dafür tun zu können, daß es garnicht erst zur Notwendigkeit kommt, einen Psychotherapeuten aufsuchen müssen) sozusagen – Lehre vom und Anleitung zum „gelingenden Leben“ zu sein, insofern war ich sehr unzufrieden mit den Entwicklungen der letzten Jahre, über die wir uns nicht mehr austauschen müssen und bin außerordentlich froh über unseren Neustart, für dessen gutes Gelingen auch unser drittes Treffen ein eindrückliches Zeugnis ablegte.

Verbunden ist besagtes Ansinnen – Stichwort „gelingendes Leben“ – mit dem notwendig mühsam im Laufe der Jahre – gegen erhebliche eigene innere Widerstände auch – erarbeiteten Wissen, daß kritisches Denken bei aller emphatisch angestrebten Einflußnahme besser sich jeglicher Anmahnung einer Alternative enthalten möge, wäre diese doch durchsetzt von eben der Gewalt, gegen welche sie angeht – in Sartres „Im Räderwerk“[13] schon die Auskunft, daß die Revolutionäre von heute die Diktatoren von morgen sind –, es also leider nichts wird mit der romantisch-sentimentalistischen Weltverbesserungsemphase, die (nicht nur) mich pubertär antrieb, aber den heutigen „Kulturpessimisten“, als welchen RH mich einmal bezeichnete, keineswegs – ich kann dies nicht nachdrücklich genug betonen – davon abhält, seinen Teil zur Dilatation des thantologischen Finalpunkts beitragen zu wollen und dies auch mit einer gewissen Zuversicht versehen.

Mit der Alternativlosigkeitsdiagnose der Objektivitätsverfaßtheit – um Himmels willen, ich muß an Frau Merkel denken – aber sind wir beim Todestrieb angelangt und ich möchte also an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, im Anschluß an RHs „Manöverkritik“ und, seine Kommentare nutzend, kurz einige Anmerkungen zu den vergangenen beiden Assoziations-Sitzungen zu machen (für mich sehr auffällig sind einige unterschwellige Konnexionen, die Deine Wahrnehmung von „L-D-K I“ mit meiner Wahrnehmung unserer Assoziations-Bemühungen verbinden). Thema also: der Todestrieb und die verzweifelten Versuche, seiner Herrschaft vielleicht doch ledig werden zu können. Immer dann nämlich, wenn die Nicht-Quittierbarkeit der Gewalt in der Diskussion aufdringlich aufschien, die möglichen Argumente für das Heil der Befreiung immer rarer wurden, wenn gar die Gefahr bestand, die hehre intellektuelle Aufklärungsarbeit der diskutierenden Runde erkennen zu müssen als dem traktierten Thema strukturäquivalente Repräsentation – schon wieder droht die Rückbindung ans Subjekt –, kam es zu (verständlichen) Fluchtversuchen – nicht unwichtig, daß diese Fluchtversuche, unabhängig davon, ob es nun um Terrorismus ging, oder um das psychotisch beängstigende Kulturartefakt Stuhl, ähnlich – Kleinbeleg für den oben erwähnten Monismus – verliefen:

  • Wechsel von der Genealogie zur Wissenschaft, deren Kausalitäten Exkulpation verhießen, den beruhigenden Selbstbetrug aufscheinen machten, das Subjekt habe mit all’ dem objektiven Elend eher als Opfer nur, denn als Täter zu tun, könne der Schuld entkommen;
  • Wechsel des Erkenntnisinteresses in einen anderen Kulturkreis (Asien, Afrika), dem das Artefakt „Stuhl“ fremd ist und der damit exkulpiert sei, wie wenn es kontemporär noch planetare Bereiche geben könnte, die der terroristischen (!) Herrschaft der     „abendländischen Metaphysik“ sich zu entziehen vermöchten (Du selbst hast von neuerlichen Greueln in Afrika berichtet, die nicht nicht in einem globalen Zusammenhang      stehen) – und auch Kulturen, ethnisch kleine Gruppen, die von „uns“ nichts wissen und von denen „wir“ nichts wissen, sind damit keineswegs jenseits dieser positioniert;
  • Wechsel vom Todestrieb zu Eros, der – so die Hoffnung, hatte ich den Eindruck – wenn es denn nur gelänge, ihn entsprechend zu stärken, Einspruchskraft entwickeln könne wider Thanatos, ultimativ diesen gar auszuhebeln und den Destruktionssog aufzuhalten vermöchte.

Letzteres setzt natürlich voraus, Eros wie eine, innerhalb von Thanatos zwar befindliche, dennoch aber heterogene Größe wahrzunehmen, wie einen guten Gefangenen eines bösen Kerkermeisters, der nur befreit werden müsse und alles würde gut (die sentimentale Welterrettungsattitude von oben scheint wieder auf), es setzt voraus – Lebenstriebe treten an gegen Todestrieb, so zu hoffen kann man insbesondere leicht verführt sein, wenn man der Leidenschaft der therapeutischen Intervention ergeben ist, wenn es darum geht, einen Patienten von, immer ja selbstzerstörerischen, Symptomen zu befreien –, eine positive Lebenskraft zu halluzinieren, die das kranke Subjekt rettet und vielleicht sogar die Welt besser zu machen imstande sei; dem aber ist leider keineswegs so, man frage nur einmal die Objekte unseres narzißtisch-erotischen Interesses (andere Subjekte, aber auch einen Stuhl zum Beispiel), wie es ihnen damit ergeht, daß wir sie – da wir gesund sind, in aller Zurückhaltung – zum Fressen gern haben, das schien kurz ausgeblendet, obwohl an dieser Stelle der Terrorismus ins Spiel kommt; nein, eher ginge es darum, Eros als soetwas wie eine rettende Zerstörung – intendierte Anderen- statt Selbstzerstörung – und damit einen seinsgarantierenden Aspekt, einen den primären Masochismus kurzzeitig aussetzenden Garanten der Fortführung des im Dienste der Seinsordnung unvermeidlichen bellum omnium contra omnes, nicht einen Antipoden von Thanatos wahrzunehmen. Gesundheit heißt zunächst einmal, das Thema des Umgangs mit dem Tode betreffend, die Position „lieber Du als ich“ beziehen zu können und damit nicht übertreiben zu müssen, an dieser Erkenntnis führt kein Weg vorbei und aller ethischer Überbau kommt verbrämend später. Wenn wir dies nicht sehen und aushalten können, führt das zum Beispiel dazu, daß wir nicht intellektuell zu durchdringen vermögen, was letzlich geschehen ist, wenn der Terrorist sich zu seinen grauenvollen Eskalationsmitteln zu greifen genötigt sieht. So pathologisch-forensisch sein Gebaren auch sein mag, er reagiert auf etwas und dieses etwas ist, ich untertreibe, keine reine Unschuld – und daher ist es auch angemessen, daß RH in seinen „Terrorismus-Theologumena“ ein Requiem für die erschossenen Terroristen, letztlich Opfer ihres, sie terrorisierenden, anderennichtenden Reaktionszwangs, anstimmte.

Die thanatologisch (masochistisch) gerahmten narzißtisch-erotischen (sadistischen) Bemächtigungstendenzen, so ergab doch schon unser 2. Zusammentreffen, zwecken wider den Entzug der Anderengröße ab auf stasierende Determination, Starre, die Leiche als Ideal des Selbstbildungsmediums. Den Schrecken dieser Erkenntnis zu wehren möchte ich an dieser Stelle – ebenso, wie Du ergreife ich die Gelegenheit zu vielfältigen Sprüngen, mit denen ich schon bei der Lektüre Deines Briefes gut klar kam – zu Motiven aus „L-D-K I“ zurückkehren und in diesem Zusammenhang RH zitieren, der im Rahmen unserer damaligen Überlegungen zur Theorie von Therapie zur Identifikation – diese ja besagte Stasierung, Gefangennahme der Anderengröße mittels der Symbolischen Ordnung – folgendes ausführte: „Demnach würde es, paradoxerweise, fällig, die unabdingbar mitgegebene Identifikation in der ‚projektiven Identifikation‘ gegen die aufdringliche Projektion nachgerade auszuspielen, …“[14]. Das heißt: Projizierte die Projektion hinein in einen unendlichen Entzug, so käme es niemals zu einer Subjektbildung, die notwendig an Identifikationsleistungen gebunden ist, welche verhindern, daß sich das Subjekt unendlich von sich selbst ins Determinationslose abspaltet, sich suizidal entleert. Die Anderengröße rettend – und so den Fortgang des Weltgeschehens der Kulturation garantierend – aber imponiert die Tatsache, daß die Identifikation nicht vollständig schließt, der Entzug nicht in Gänze unterbunden werden kann, die Anderengröße somit erhalten bleibt, dem Subjekt seinen verworfenen Tod zurückgibt und dieses in der Reintrojektion dessen, was es zuvor als seine höchste Gefährdung einschätzen mußte, des Todes, geradezu sein Sein gewinnt (Ja, ja, die Zumutungen der Dialektik).

Was ist daraus zu schließen? Zunächst ganz offenbar – ich wiederhole mich, aber es muß sein und RH hat es schon viel häufiger wiederholt, wiederholen müssen – daß es jeglicher erfolgreichen therapeutischen Intervention und auch allen sonstigen gewaltermäßigungsmotivierten Eingriffen ins Repräsentationswesen vorausgehend – wir befinden uns immer noch inmitten auch von Fragen einer pathognostischen Ethik, wenn Du so willst, die aber als Kollateralprodukt von Repräsentationstheorie eben nur sich ergeben – einer Anerkennung der Nicht-Quittierbarkeit der Gewalt bedarf, „ohne wenn und aber“, nur auf der Basis dieses Wissens ist es möglich, an der Minimierung der Gewalt zu arbeiten, jegliche Leugnung der Ubiquitarität des thanatologischen Destruktionszugs imponiert unweigerlich als beglaubigende Steigerung eben der Gewalt, die unterbunden werden sollte. Die totalitären ethischen Ansprüche der Heilung der Welt im Ganzen, in welchen das Subjekt wertedienstbar sich selbst genießt, sind es, je different interpretiert – „gut gemeint“ ist eben in der Tat das Gegenteil von „gut gemacht“ –, die, mit ideologischem „Feuer und Schwert“, die Brandherde dieser Welt in aeternitate kochen machen.

Kurzer Exkurs: Ich habe in den 1990ern in der Diakonie in Düsseldorf-Kaiserswerth für einige Jahre neben anderen Unterrichtsfächern (Psychologie, Psychohygiene, Gesprächsführung) auch Ethik gelehrt. Mein Konzept – auf Vorschlag von RH nannte ich es „Negativer Narzißmus“ – lief darauf hinaus, das es keine sinnvolle Anderendienstbarkeit ohne Selbstbildungsprämie geben kann, daß das Konzept der „Selbstlosigkeit“ gewaltsteigernd wirkt, weil das Selbst, wenn ich es denn „los“ bin[15], diesen Zustand seines vermeintlichen, gänzlich in Anderendienstbarkeit angeblich aufgegangenen, Verabschiedet-seins zur Eskalation seiner erotisch-thanatologischen Süchte nutzt. Wartung des Anderen also, weil ich den Anderen brauche, weil ich ein vitales Interesse daran habe, ihn mir als Spiegel zu erhalten; Ethik, weil ich etwas davon habe, weil die Qualität der Selbstkonstitution, der narzißtisch-erotischen Selbsthervorbringung, von der Qualität der Spiegelung abhängig ist, diese hinwiederum abhängig vom Wartungszustand des Spiegels. Warum ich das hier erwähne? Als ich die Nicht-Quittierbarkeit der Gewalt ausführte, gab es in den verschiedenen Klassen – eher übrigens bei Schülern in der Berufsausbildung, weniger bei den Profis in meinen berufsbegleitenden Seminaren – immer einige, die mit der Haltung: „dann dürfen wir ja!“ reagierten, womit das Thema der Selbsterfahrung hinwiederum auf der Agenda steht. Wenn die Gewalt nicht vermieden werden kann, dann geht es immer auch um meine eigene. In diesem Zusammenhang ist auch RHs Monitum des „affektiven Nachvollzugs“, geäußert in der Sitzung am 22.02.2015, zu sehen; und wenn man irgend mit der „Arbeit am Anderen“ befaßt ist, ist dieser Rückbezug auf sich selbst besonders dringlich. In „L-D-K I“ gibt es einschlägige Passagen zur Phantasmatik von Psychotherapie, deren Kenntnis ich für den Nachvollzug pathognostischer Theorie von Therapie für unverzichtbar halte und RH hat zudem wiederholt darauf hingewiesen, daß die soziale Gesinnung (ich unterrichtete AltenpflegerInnen und Pflegepersonal in der Gerontopsychiatrie) als Abspaltung der eigenen Asozialität aufzuschließen sei, was bei einigen meiner Schüler eben besonders auffällig wurde (und im Rahmen von Unterrichtsveranstaltungen mit ca. 40 Schülern, die zudem extrem heterogene Bildungsvoraussetzungen mitbrachten, auch nur wenig beeinflußbar war).

An dieser Stelle Sprung zurück zu Deinem Brief, denn hier werden Deine Lacan-versierten Bemerkungen – hinwiederum eine Verbindung bildend von Deiner „L-D-K I“-Lektüre zu unseren Assoziationssitzungen – zum analytischen und zum universitären/akademischen – sagen wir doch der Konkretisierung wegen sogleich: rein philosophischen? – Diskurs spruchreif, denn sie markieren in wünschenswerter Deutlichkeit die Differenz von affektivem und rein rationalem Wissen, wobei es eben sehr wichtig ist, das es in beiden Fällen um Wissen geht und nicht eine – psychoanalytisch ja grassierende, gegen „Intellektualisierung als Abwehr“ positionierte – lebensphilosophisch-ursprünglichkeitskaprizierte Affektenmetaphysik. In der Tat geht es pathognostisch darum, die dumme Position der Herrschaft zu vermeiden – ob es wohl heute noch viele Therapeuten gibt, die wissen, daß qerapeutÀV „Diener“ heißt? Jedenfalls ist es Dir ja deutlich aufgefallen, daß RH die Rolle des „Maître“ – im Hinblick auch auf die auch thematischen ödipalen Verstrickungen wohl, die nicht neu aufgerollt werden müssen, zu denen in „L-D-K I“ alles gesagt ist – zu ermäßigen sich befleißigt (welche Ermäßigungsbemühung letztlich die Rolle des „Maître“ allerdings bestätigt).

Und wieder ein Sprung. Unsere letzte Assoziationssitzung gipfelte – im Zusammenhang der Exekutionsformen des Todestriebs und der psychotischen Reaktion auf das Kulturding „Stuhl“ – in der, noch unbeantwortet gebliebenen, Frage: Was ist dann Pathologie? Zu einer neu aufgerollten Beantwortung dieser Frage möchte ich mich auf Deine thalasso-biologischen Ausführungen zu den Machenschaften des bösen Geistes Legion beziehen, genauer, auf die Problematik, die betreffend Du „allerdings etwas anderer Auffassung“ bist, das, was Du in meinen Ausführungen als den behaupteten „Nicht-Verschwindenskomplex“ des Dämons anstößig fandest; ich selbst formulierte das, wenn ich mich recht erinnere, als „Permanenznot der Todesentäußerung“. Diese Permanenznot der Todesentäußerung auf die Anderengröße hin als Endlager dessen, was das Subjekt verseucht, ist, in diesem Brief auf unterschiedlichste Weise bereits angesprochen, die Normalitäts- respektive Gesundheitssignatur schlechthin. Kann dieser produktive Akt nicht vollzogen werden, wird dies spürbar als Unvermögen der Konsumtion, des Gebrauchs – eingeschränkt (Neurose), oder totalisiert (Psychose). Natürlich ist dieses Unvermögen exkulpationsmotiviert und alle Therapie besteht dann darin, den Patienten in den Stand zu versetzen, sich störungsfrei verschulden zu können, oder – wenn Du so willst – die Produktion der Konsumtion, den gelingenden Daseinsvollzug, vornehmen zu können, was nichts anderes heißt, als der anstößigen obigen Alternativlosigkeit gegenüber willfährig zu sein.

Im Falle einer Organpsychose – und der Krebs ist eine solche – handelt es sich nicht nur um einen Organbefall (und auch dieser kann nicht als vollständig heilbar bezeichnet werden; im Falle des Prostatakrebses liegt, ich erinnere daran, der angebliche Nullwert des prostataspezifischen Antigens realiter bei 0,07 ng/ml – wenig, aber nicht nichts), es ist eine Subjektverfaßtheit. Ist der befallene Patient ein Philosoph, so lautet die Alternative: Entweder die Zellen delirieren, oder aber dieses Delirium wird entäußert als philosophischer Text; kommt es zur Schreibblockade, besteht höchste Gefahr. Ohne diesen Zusammenhang überlasten zu wollen – so kann man zum Beispiel nicht behaupten, daß der Krebs nicht zurückkehrt, solange der Philosoph schreibt –, kann ich hier sagen, daß ich dennoch diesen Zusammenhang bestätigende Erfahrungen mit den entsprechenden Schwankungen meiner PSA-Werte gemacht habe. Die hier herrschenden Sonderkonditionen haben damit zu tun, daß Philosophie, wie auch Kunst, etwas anderes ist, als nur ein Beruf, eine Existenzform nämlich, die nicht ausleben zu können, möglicherweise heißt, garnicht leben zu können. Immer aber geht es, sowohl im Falle von Gesundheit, als auch im Falle von Pathologie, um Permanenznöte. Thalasso-biologisch: Ja, es gibt das Süßwasser, das Subjekt aber muß Meerwasser-Filteranlagen bewirtschaften, damit es sei; ja, die Flußkrebse darin können ihre Arbeit tun, sie können den bösen Geist Legion absorbieren, nicht aber einmal für immer. Ermunternde Botschaft, vor allem an mich selbst: jeder Text ein Flußkrebs und auf dem Speiseplan ihn finden zu können, heißt, ihn publiziert haben zu müssen (in der Schublade liegen geblieben, ist halb im Körper liegen geblieben). Speisen zu können und damit auch weiterhin existieren zu können aber heißt eben auch, an die Not des Speisen-müssens und damit letztlich an die Sterblichkeit erinnert zu werden und alles beginnt da capo. Gelesen zu werden und Rückmeldungen der Art, wie Du sie mir gabst, zu erhalten, erhöht den Selbstkonstitutionswert der Nahrung und im Gegensatz zu Sartre bin ich ein Fan von Hummern, Krebsen und dergleichen; was Du im Anschluß über die Schuldquanten und die Begehrensökonomie sagst, veranlaßt mich allerdings dazu, zu meinen, daß wir da vielleicht doch nicht unterschiedlicher Meinung sind …

Kurz noch zu Annie Lennox und meinem „Sisters“-Text[16]: Gerade, weil ich sie sehr schätze, habe ich mich mit ihr nicht näher befaßt. Was ihre Androgynie angeht, geht aus meinem Text deutlich hervor, denke ich, was ich dazu für eine Position habe („Alle Menschen werden Brüder“). Darüber hinaus: Ich lege Dir einen Ausdruck des Sisters-Song-Textes bei, aus dem hervorgeht, das auch diesbetreffend meine Kommentare eher sehr kritisch hätten ausfallen müssen (nicht gestellte Frage nach dem Geschlecht des Konditors) und das wollte ich ihr einfach nicht antun, denn sie erhebt ja garnicht die intellektuellen Ansprüche, die sie auf die Ebene meines Textes gezogen hätten – ganz im Gegensatz zu den analytischen Philosophinnen, die sich selbst in die Lage gebracht haben, sich philosophischen Blödsinn vorwerfen lassen zu müssen. (…)

So, das war’s für diesmal.

Viele Grüße und bis bald

Thomas 

--

[1] Petersen, Karl Thomas / Heinz, Rudolf, Leib – Ding – Körper I. Pathognostische Korrespondenz mit Supplementen. Genealogica Bd. 40. Hg. R. Heinz. Essen. Die Blaue Eule. 2009.

[2] Sorry, bin selbstredend natürlich kein bisschen besser, mein Defizit mag das Inhaltliche eher sein!

[3] Zum Begriff der Begehrensökonomie siehe: Hermanns, Ulrich, Discours capitaliste und Plus-de-jouir. Zur  ökonomischen Terminologie von Jacques Lacan 1969 – 1973. Düsseldorf. Peras. 2011.

[4] Petersen, Karl Thomas, Waren und Warenschicksale. In: Heinz, Heide / Weismüller, Christoph (Hg.), Rudolf Heinz and friends. Textpräsente für einen letzthinnigen Philosophen. Düsseldorf. Peras. 2014.

[5] Petersen, Karl Thomas, „Sisters Are Doin’ It For Themselves“? Oder Frauenbefreiung. Eine Bestandsaufnahme. In: Heinz, Heide / Weismüller, Christoph (Hg.), Zur geschwundenen Aktualität der Frauenfrage. Psychoanalyse und Philosophie. Pathognostica. Jahrbuch 2010. Düsseldorf. Peras. 2011. 31-57.

[6] Das Ausflippen des Tönernen anhand Ihres Beitrags ist natürlich ein Skandal höherer Ordnung. Deutungsdimensionen auf der Folie des ‚Roten Blutes‘ sind sicherlich hilfreich, doch offenbart das Ganze ja final vor allem dessen usurpatorische Intention, Selbst-Besessenheit exorbitanter Manier. Mal sehen, wie die Entledigung des verflucht Inkorporierten verlaufen mag …

[7] Weshalb ich selbst ausgiebigen Massagen sehr zugeneigt bin, die in der gewünschten Form in unseren  Breitengraden allerdings nicht verfügbar sind. Eine besonderere Art der Übereinkunft von Leib, Seele und Anderem.

[8] A.a.O.

[9] Petersen, Karl Thomas, Genealogisch denken. Ein Fragment zum pathognostischen Philosophieverständnis. In: Weismüller, Christoph (Hg.), unter Mitarbeit von Ralf Bohn. Kontiguitäten. Texte-Festival für Rudolf  Heinz. Wien. Passagen. 1997. 307-313.

[10] Leib – Ding – Körper I. A.a.O. 122.

[11] In: Heinz, Rudolf, Pathognostische Studien XIII. Der Pathophilosophie endliches Provisorium. Genealogica Bd. 47. Hg. R. Heinz. Essen. Die Blaue Eule. 2014. 132 ff. (Kann sein, daß es dazu auch etwas in RHs neuem  Werk „Aus meinem Leben“* gibt, das weiß ich aber nicht, da ich es noch nicht habe).
* Heinz, Rudolf, Aus meinem Leben. Posteriore Urszenen, philosophische, religiöse, kunstbezogene. Genealogica Bd. 48. Hg. R. Heinz. Essen. Die Blaue Eule. 2015.

[12] Heinz, Rudolf, Allgemeine Theorie des pathognostischen Verfahrens (stark ethisch-konfessionell und erneut in philosophischer Manier. In: Ders., Lectiones pathognosticae. Institutionen einer Art kritischer Psychoanalyse. Düsseldorf. Psychoanalyse & Philosophie. 1999. 70ff

[13] Sartre, Jean-Paul, Im Räderwerk. Frankfurt am Main. Ullstein. 1962.

[14] Leib – Ding – Körper I. A.a.O. 117.

[15] Siehe hierzu: Petersen, Karl Thomas, Negativer Narzißmus oder Das Ende der Empathie. In: Psychoanalyse und Philosophie. Bulletin des Vereins Psychoanalyse und Philosophie e.V. 1. Jahrgang. Heft 1. Düsseldorf. 1998. 42-46.

[16] „Sisters Are Doin’ It For Themselves“? A.a.O

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