Marke – Ein leicht zu übersehender, paranoid-despotischer Signifikant in Richard Wagners Tristan und Isolde
Ulrich Hermanns
Am Schluss des Musikdramas segnet König Marke von Cornwall die Leichen – des Tristan, wie der Isolde. Woher die heiligende Autorität? Und was hat es sonst damit auf sich?
Wagner’s Aufbereitung des Stoffes lässt große Teile des epischen Materials beiseite, welches etwa Gottfrieds von Straßburg Verserzählung die inhaltlichen Bestimmungen gibt. Darüber hinaus nimmt Wagner zwei bedeutende Änderungen an der Überlieferung vor. Erstens differenziert er nicht zwischen den beiden Isolden, Îsôt, nämlich der magiebegabten Mutter und deren Tochter, um die Tristan für Marke wirbt. Zweitens führt er einen Todestrank ein, von dem die nun töchterlich-mütterliche Isolde sogar weiß, dass er verfügbar ist – während sie in den mittelalterlichen Überlieferungen von keinem mitgegebenen Zaubertrank überhaupt wusste und nur deshalb ihn so selbstverständlich mit Tristan in bloß durstlöschender Absicht teilen konnte. Das unabgeleitete, gesetzte Todeseingedenken ist mit der Konsequenz einer fast schon Verfallenheit an den Tod, den sie in schuldbefreiender Absicht gemeinsam mit Tristan sucht, verbunden.
Während die mütterliche Îsôt sowohl die Urheberin für die, ohne ihr Gegenmittel, tödliche Giftinfektion des Schwertes Morolts, mit dem er Tristan verletzt, ist und ebenso für die Bereitung des das Drama auslösenden Liebestranks verantwortlich ist, stellt die töchterliche Îsôt ein höchst komplexes Tauschäquivalent dar – als beabsichtigt friedensstiftend zwischen den Reichen Irland und Cornwall und als inzestuös infizierter, intergenerativ funktioneller Opferstoff zwischen Cousin und Onkel.
Es wird leicht übersehen, welche signifikante Rolle Marke im Musikdrama spielt, während er in der Verserzählung unübersehbar präsent ist. Ihm aus der Verserzählung eine paranoid-despotische, gar Homosexualität larvierende Position zuzuschreiben, ist nicht ohne Risiko möglich. Vieles ist hypothetisch.
Die Rolle des Despoten im Reich Cornwall ist allerdings eine manifeste. Er ist derjenige, dem Abgaben zu entrichten sind und dem gegenüber Dienstpflicht seiner Vasallen besteht, der aber auch bereits durch eben diese in seinem Machtanspruch bedrängt wird und zur Bündnisaufnahme zu einem der mächtigsten Konkurrenten sich genötigt sieht, indem er eben dessen Tochter ehelichen soll. Die ästhetisch-schmückenden Attribute der despotischen Herrschaftswelt, die weiße Burg, der prunkvolle Aufzug des Gefolges und seiner Person selbst können nicht verdecken, welch mörderisches Treiben sowohl ritualisiert unter seinen Untergebenen im Turnier vorherrscht, wie auch die Szenerien der periodischen Ausritte zur Befriedung der bedrohten Grenzregionen mittels Kampf bestimmt sind – einschließlich des durch Tristan bestandenen Stellvertreterkampfes gegen den Tribut verlangenden Morolt, ob Jünglinge oder protomonetäres Äquivalent.
Wagner packt die umfängliche Vorgeschichte des Tristanstoffes in sein rein musikalisch-konzertant dieser innegewordenes Vorspiel. Dieses verzichtet auf erzählerisch erinnernde Konsequenz, stellt jedoch ein kaum entwirrbares Verhältnis von melodischer Logik und instrumental-performativer Hörbarkeitsgeneration, Auditivität, an dessen Stelle – es ist nicht entscheidbar, ob der Klang sich dem Innenantrieb eines geradezu zwingenden melodischen Fortschritts verdankt, ihm abgerungen, dem Streichen der Saiten willenlos folgend, oder ob eine notierte Anweisung die Evokation der Klänge vorgibt. Auch wenn es selbstverständlich Letztere ist, die tatsächlich die praktische Seite der aufführenden Generativität steuert, könnten die Musiker und Musikerinnen nicht ohne die Bejahung der Ersten gewaltfrei der Beisteuerung des zu Erzeugenden folgen.
Zurück zu Marke. Worin besteht seine Paranoia? Man muss auf Ranke-Graves Beschreibungen der Verhältnisse im mythischen Britannien in seinem Buch Die weiße Göttin zurückkommen, um überhaupt die basalen Kulturprägungen durch die verlangten und listig verhinderten Opfer als untergründiges Leitmotiv zu identifizieren. Die Könige des Typus Marke versuchen, ihrer rituellen, an Zyklen des kosmischen Jahres gebundene Opferung zu entgehen, indem sie sich an rätselgenerierenden Praktiken beteiligen, letztlich an der Herstellung von Poesie, einschließlich deren skriptural-alphabetisierenden Einschreibung.
Die Paranoia Markes bei Gottfried ist konkret nicht unmittelbar präsent. Sie erschließt sich indirekt aus der ihm eigenen Abwehrhaltung. Er ist bereit, sein Königtum seinem Neffen Tristan zu überlassen, sofern er selbst ohne Nachkommen bleibt. Ein Versprechen, gekoppelt an einen Anspruch, zu dessen Erfüllung er in doppelter Hinsicht selbst nichts beitragen kann: weder das notwendige Pendant geschlechtlicher Zeugung zu sein, noch einen solchen Nachfolger in Eigenregie zu gebären. Er ist auf Entwicklungen in der ihm externen Welt angewiesen. Diese definieren sein Statut. In genau diesem Statut geht sein Herrschaftsanspruch sowohl auf, als er auch in der Verfolgung der Abwehr des Gegenteils bereits Hinfälligkeit offenbart – der Herrensignifikant ist brüchig, was in engeren Verständnis die Handlungen im Umfeld motiviert.
Die Schwäche Markes zeigt sich auch in seiner Unfähigkeit, selbst die nötigen Entscheidungen und Maßnahmen zu einer möglichen Kompensierung seines fundamentalen Defizits, des Fehlens einer Gattin, zu treffen und zu ergreifen. Ihn scheint eine larvierte Depression davon abzuhalten, die im nebelhaften Entschwinden der Schwester besteht. Diese, Blanscheflur, war dem Vater Tristans, Riwalin, im Akt einer Flucht von Markes Hof gefolgt, während sie von Riwalin mit Tristan bereits unwissentlich schwanger war. Weder der Zielort des Entschwindens von Blanscheflur, Parmenien, war Marke bekannt, noch die Tatsache, dass diese infolge der Geburt Tristans ihr Leben lassen musste.
Am Hof Markes herrschte eine mit der Depression auf der Gralsburg Anfortas vergleichbare, allerdings weniger kollektiv ritualisierte Stimmung. In erzählerischer Umkehr versucht jedoch Gottfried, diesen Hof vielmehr als ästhetisch perfektionierte, insbesondere durch Oberflächenreize überzeugende Entität zu schildern. Es sind in der Tat die eher schuldverdeckenden Operationen der höfischen Gesellschaft im Umfeld Markes, die eine beständig kampfbereite und waffenstrotzende Gesellschaft als ästhetisch glanzvolles Reizkonfigurat auszugeben verstehen. Allerdings fehlt diesem die Herrschaft garantierende Magie, über welche die Mutter Isolde am irischen Hof verfügt, welcher Markes Hof daher tributpflichtig ist.
Das matriarchale, über magische Fähigkeiten verfügende Residuum, das in kaum unterscheidbare Mutter-Tochter-Personifizierungen gegliedert ist, kodiert die generative Impotenz Markes in einer Form, die zugleich den Ausweis manifester Homosexualität nicht zulässt. Die der Adoleszenz entwachsenen, männlichen Mitglieder des Marke-Hofes haben sich im Turnier – die Symbolik von gewappnetem Pferd als beherrschtem mütterlich-residualem Fetischobjekt und der Lanzen, die, sobald sie die je eigene Rüstung zu durchdringen vermögen, todbringend sind, ist einschlägig – einem spezifisch weltlichen Ritual zu stellen. Sie intendieren nicht, den Vater im Sinne eines eine Urhorde beherrschenden despotischen Signifikanten zu töten, sondern die Mutter im Vater, die dadurch zur himmlischen Schwester wird. Wo keine mittels patriarchaler Autorität erst als solche ausgewiesene Töchter existieren, ist auch das definitorische Statut männlicher Identität hinfällig. Insofern bleibt Marke gar keine andere Wahl, als paranoid der Geschlechterindifferenz wie deren faktischer Absenz zu entkommen versuchend, zu figurieren.
Die zentrale Aufgabe Tristans ist sowohl in der Verserzählung Gottfrieds, wie im Musikdrama Wagners, die Gewinnung und Heimführung Isoldes, Îsôts, als Beute für Marke. In seiner Annahme des auf einer paranoid-despotischen Signifikantenrolle gründenden Appells ist er zweifellos nicht autonom, so überzeugend auch ihn beide auszuzeichnen versuchen, sondern offenbart anhand der Fehlidentifikation des magischen Trunks die grundlegende Fragwürdigkeit der geschilderten Großszenen. Die Binnenfaszination der szenischen Details als auch die überhaupt erst dekodierbare Dauer und damit Zeit freigebende Verknüpfung von Szenen ist das, was Erzählung und musikdramatische Performanz auszeichnet.
Im Versroman wird das durch Tristan vorweggenommene Phantasma Markes zum Motiv seiner schließlichen Dauerflucht vor der Unhaltbarkeit des Appells des matriarchalisch-magischen Liebestranks und in der Übertragung auf Isolde zum melancholisch den Verlust des kaum klar konturierten Liebesobjekts hinweg lebenden Verschwindens – damit zu einem potenziell kaum abschließbar Finalem. Es gibt dort kein Ende, das dem initialen, auf Flucht vor dem despotischen Sexualverbot basierenden Beginn entspräche, ein Schicksal des Tristan. Maximal wäre es ein elendes Ersterben des Tristan in der Erschöpfung immer neuer Wiederholung – Isolde Weißhand ad infinitum.
Das Ende im Musikdrama dagegen muss als blasphemischer Scherz aufgefasst werden, wenn es der paranoid-despotische Signifikant ist, in dessen Namen die Handlung allererst motiviert wird und zusätzlich finaler Segen eine Christlichkeit voraussetzt und herbeizitiert, die selbst ein spätromantisches Idiom (welches konkret auszuführen wäre) subvertiert. Nur unter solcher Fallstrickkonfiguration mögen Sexualität, Gewalt und Ästhetik sich im Binnenverständnis produktiv-widerständig arrondieren und Institutionen-generierend – Musikdrama – gebärden. Darüber hinaus bedürfen sie, wie die Institution selbst, ähnlich paranoid-despotischer Signifikanten, die sie stützend erhalten.
Das sind Gesellschaftsstrukturen, die genau da brüchig werden, wo konkret zu erschließende, musiksoziologische Perspektiven enthüllen, wie ein ‚Wagnersches Paradigma‘ (ebenfalls konkret zu bestimmen) in Wettbewerb tritt zu unterhaltungsindustriellen Großstrukturen, die sich ihrerseits technischer, wie ökonomischer und massenpsychologischer Instrumente bedien(t)en. Dies, um die Aufmerksamkeit eines kaum je elaborierten Publikums ontogenetisch zu fesseln und dadurch so etwas wie musikalische Urrepräsentanzen zu schaffen, die der wagnerschen Hermetik konkurrierende Rhythmen, Melodien und Botschaften in all ihrer Verkürzung und Distorsion entgegenstellen. Deren appellhafte (Auf-)Lösung genau die Komponenten begehrensökonomisch ins Spiel bringt, die wir in unserem je individuellen Treiben in antizipatorischer Finalität herbei, wie hinweg zu agieren haben.
Januar 2014