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Let’s Call it a Night

Ulrich Hermanns

Sie ließen sich auf den Gartenstühlen im ruhigen Bistogarten hinter den nun pünktlich eingeschlossenen Werken von Fritsch, Paik, Gurksi und vielen anderen an einladenden Tischen nieder. Das hochsommerliche Temperaturgefüge hatte sich auf antropomorphe Manier in eine friedliche Erweiterung der Körperhülle geradezu eingependelt. Unfrieden brach zunächst repräsentiert in ihre Vorstellungen ein, um von dort auch wieder stimmlich umgeformt veräußert zu werden, der Schreckenszustand der waffenstrotzenden und gewaltsam vor den Augen aller tötenden Welt war in fühllosem, ungreifbaren Ekel präsent, um in den zwar nicht fassbaren, doch eng verwobenen Höllenkreisen der Erdlinge nicht unerkannt zu bleiben.

Wie auf der Theaterbühne wurden Gestalten einer nach Befreiung rufenden Innerlichkeit zunehmend präsent, auch um nach geraumer Zeit wieder zu verschwinden, nur dass es kein Drehbuch, keine Partitur, keine Textvorlage gab. Freejazz mit allen Spannungsbögen zwischen monadischem Binnenrückblick und zitiert freigesetzter, dosierter Depression, einzig dem zuweilen nicht eben leisen Instrument Stimme seine Präsenz verdankend.

Da sie unbehaust, in einer architektonisch zweifelhaften Kreuzung aus weitläufigem Hof und nach despotischen Regeln reproduziertem Park sich befanden – die schweren, seltsam dunklen Sonnenschirme hatten sich nach einer Weile in Windschaukeln verwandelt –, waren es die Züge eines kärglichen, an gebackenen, das Italienische idyllisieren sollenden Teigwaren, ein mögliches Dîner sur l’herbe symbolisierenden, Geschehens, das, der unaufhaltbaren Kraft der Erdrotation wegen, jedoch zügig auch die blaue Stunde durcheilte.

Anderenfalls wären die mystischen Mondstrahlen bei Tage, dem Kapitel des Mann ohne Eigenschaften, bei dessen Feintuning Musil einem Herzinfarkt erlag, gleichwohl glücklich erlöst lächelnd, wie Martha es schilderte, aus dem Romankontext heausgetreten und hätten sich in den fortgeschrittenen Kalender der Weltordnung neu eingeschrieben.

Was war geschehen? Dreißig Jahre jeweiliger Eigenerfahrung, den Augen wie Ohren des Anderen vollkommen entzogen, suchten spiegelbildliche Ausgabe, und fanden sie. Manet, der in einiger Entfernung unbemerkt die mitgebrachte Leinwand auf seiner Staffelei eifrig bediente, packte nach getaner Arbeit das Tableau unter den Arm und ließ es schnell seinem Agenten überstellen. ‚Aber Manet ist doch längst tot, wie sollte das sein?‘ wurde wie aus einem Munde gefragt. K. setzte sich zu ihnen. ‚Meine Herren, das ist kein Spaß, glauben Sie es mir, bleiben sie bei der Sache.‘

Manet hatte andauernd dienstbare Geister geschickt, die so, als geschähe es aus deren eigenem Antrieb, Getränke brachten und die würzigen, sättigenden Fladenbrote, die, bevor aufgegessen, vom zunächst noch sanft wehenden Wind abgekühlt, auf den als Teller dienenden Holzbrettern lagen. ‚Ich mache den früheren Fehler mit den lüstern in die Szene integrierten Frauen nicht noch einmal, das hat damals schon einen mir allerdings nicht unliebsamen Skandal provoziert, insbesondere, da sich eine der beiden der Kleidung vor den Augen all derer vollständig entledigt hatte, die sich über hundert Jahre lang von pausenlos an ihr vorbeieilenden Menschen- und Blickströmen, zumindest tagsüber, betrachten lassen sollte. Das hatte die ewig lüsterne Dame ihm geklagt, als er, auf die Erde zurückgeschickt, sie einmal wieder im Gare d’Orsay, das nun ein Museum geworden war, besuchte. So ließ er also andere junge Frauen bekleidet ihren Dienst tun, wohl wissend, dass es der Imagination der Bedienten keine Schwierigkeit bereiten würde, sie sich nackt vorzustellen. Von Ferne betrachtet, war es ja auch leichter, die Helferinnen der Psyche als vor Augen gestellte Vermittlungsagentinnen präsent zu halten.

‚Nun‘, dachte Manet, ‚mein inszenatorisches Talent hat sich gut entwickelt. Hoffentlich kommt es auch im Bild gut rüber, nicht, dass man es für ein misssglücktes Nachtbild hält, wie ehedem die Seebilder meines Freundes Turner.‘

Tatsächlich war außer einem gigantischen Farbchaos wenig auf dem Bild zu erkennen. ‚Gut gemacht, Manet‘ meinte K. ‚Dass es nur aus zwanzig Metern Entfernung als das sich darstellt, was es zeigen will, wird so schnell niemand erkennen. Und dein Agent wird es wohl auch erst mal probehalber selbst behalten, ich kenne den krummen Hund.‘ Da hatte sich K. wieder einmal auf das ihm so geliebte wie unverständliche Feld der Vermutungen begeben, die früher schon sein irdisches Verweilen abrupt beeendet hatten.

Einen sehr einfachen Test hatte sich der Agent überlegt, schon als er nur ahnte, was Manet fabrizieren würde. Er hatte die Aufzeichnungen der Überwachungskameras kurzerhand angezapft, die auch beim Abschließen des Museums in Betrieb waren. So kannte er den Code, der ein gefahrloses Öffnen der Seitentür erlaubte. Mit dessen Hilfe trat er ins Innere. ‚In Gregor Schneiders Schrottarchitektur wird doch niemand sich wundern, wenn ich diesen Neu-Manet hinter einigen Steinschichten einbetoniere, woher auch. Der Gregeor hat solch einmaliges Potenzial, da spazieren auch in hundert Jahren noch die Leute an seinen Schimmelwänden kopfschüttelnd vorbei. Nur wird niemand in der Lage sein, die nötigen zwanzig Meter freie Sicht auf das Objekt der Begierde zu haben.‘ ‚Sei’s drum, ich mach’s‘. So platzierte er Manets Dîner sur l’herbe unauffällig im Keller des K21 hinter Gregors Moderwand. Und machte sich behend aus dem ihn dort fast den Atem raubenden Staub.

‚Den wären wir erst mal los‘, gab K. mit bestimmtem Ton in die Runde. ‚Und ihr‘, versuchte er mit autoritätsbemühter Eindringlichkeit sich verständlich zu machen, ‚macht weiter, als sei nichts geschehen. Dreißig Jahre aufgespeichertes Imaginäres ist doch nichts Außergewöhnliches, am Jüngsten Tag gibt’s wesentlich mehr. Ihr werdet schon damit zurecht kommen.‘

War das noch der K. von früher? Sein Ton war nicht widerzuerkennen, er wollte es vermeintlich auch nicht. Er zog das hellgrüne T-Shirt über seine gelbe Beachshorts, hob die Hand zum schnellen Abschiedsgruß und erklomm die Fassade. Auf mittlerer Höhe grub er sich nach innen ein und verschwand geräuchlos zwischen dem Mörtel. Die Fassade schien unberührt, als sei nichts geschehen.

‚Ich bin etwas müde‘, tönte es aus einem der Gartenstühle. Der dort Sitzende befand sich seit dreißig Jahren an diesem Platz. Sein Gegenüber war längst jenseits des Äquators unterwegs gewesen und in einer Art Doppelpräsenz dort als Autor tätig gewesen, doch verstand niemand sine Sprache, und, um ehrlich zu sein, hatte je seine Bücher gelesen, die ja nur Drehbücher waren zur beliebigen Selbstaufführung, ähnlich die des Anderen.

Ohne es zu bemerken, hatten sie sich mit den Personen in ihren Werken so sehr vermischt, waren in sie eingedrungen, um ihnen spürbare Päsenz zu geben, deren lautem, nötigendem Drängen nach Darstellbarkeit die angemessene Rücksicht zuteil werden zu lassen. Das war es, dem Manet so fasziniert zugesehen und auf seine Leinwand gebannt hatte. Ein moderates Farbspiel und die klar begrenzte Szene hatten es ihm leicht gemacht. Den Einbruch der Nacht visuell zu erfassen und das intensive künstliche Licht über den kontinuierlichen Prozess seines Erscheinens festzuhalten kannte er noch von früher, auch die sich recht vorausberechenbar bewegenden Geistererscheinung der Dienerinnen der Psyche waren ihm sehr vertraut, da sie ja auch ihm dienstbare Freundinnen seit langem waren. Einige Fahrzeuge mit Blaulicht hatte er bestellt, die temporär die Szene fast schon im Off tönend durchquerten, kollektive Beherrschbarkeit der menschlichen Schwächen verdeutlichen sollend, laut und ostentativ. Sie fuhren ebenso präzise die vorgezeichneten Wege, wie die die Droschken, die wirklich präsente – wirklich präsente? – Gäste nächtens abzuholen sich anschickten.

Kubrick griff zum Megaphon. ‚Let‘s call it a night – Schluss für heute, wir haben alles im Kasten. Die Idioten haben sogar ohne Gage und Drehbuch mehr geliefert, als abgemacht. Gute Arbeit.‘

‚Kommt nach Oklahoma ins Naturtheater, Familien, Neger, Löwen und Platzanweiser, die neue Saison steht an. Eine Aufführung nach Manet in der Interpretation von K., alias Kubrick.‘ Und mit Ausrufezeichen darunter: ‚Wir können alle brauchen!‘ Die Plakate waren etwas ungewöhnlich ausgefallen und auch unsauber geklebt, doch unübersehbar.
Dîner sur l’herbe stand auf  jedem zweiten – und mit roter Klebenachschrift: ‚Mit kostenloser Teilnahme an der Erdrotation für alle, die rechtzeitig da sind – Seid nicht die Letzten!‘

Sie erhoben sich aus ihren Gartenstühlen und schritten in die Nacht. Zehn Stunden waren binnen Sekunden vergangen. ‚Das also bin ich – oder nicht?‘ Der allpräsente Notarzt war überfragt. ‚Solche Rätsel sollten Sie lieber selber lösen, wir haben genug mit uns selbst zu tun. Auf Wiedersehen.‘

August 2014

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